Neue Notiz
Paterson
Jarmuschs neues Mixtape
Paterson ist Busfahrer in der Kleinstadt Paterson, New Jersey. In seiner Freizeit schreibt er Gedichte, die Alltagsbeobachtungen reflektieren. Er lebt mit seiner Frau Laura und der entspannten Bulldogge Marvin in einem kleinen Haus. Jarmusch neues Mixtape ist ein Film voller zärtlicher Alltagsbeobachtungen und Poesie.
Als Eva (Eszter Balint) 1984 in STRANGER THAN PARADISE einen Kassettenrecorder, auf dem ausschließlich der Screaming Jay Hawkins Song „I Put a Spell on You“ lief, auf die Leinwand, und dort durch die Straßen von Brooklyn schleppte, war das der Beginn eines langen Mixtapes von Jim Jarmusch. Seitdem sind Jarmuschs Filme sowohl Protokoll seiner eigenen Lektüre und seiner Musikvorlieben, als auch Remix dieser Vorlieben. Vom MovieMaker Magazin 2013 nach den „Goldenen Regeln des Filmemachens“ gefragt, schreibt Jarmusch:
„Nichts ist original. Stiehl von überall das, was in deiner Inspiration widerhallt, oder was deine Vorstellungskraft anregt. Verschlinge alte Filme, neue Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Fotografien, Gedichte, Träume, zufällige Unterhaltungen, Architektur, Brücken, Straßenschilder, Bäume, Gewässer, Licht und Schatten. Wähle nur die Dinge zum Stehlen aus, die direkt zu deiner Seele sprechen. Wenn du das tust, wird deine Arbeit (und dein Diebstahl) authentisch sein. Authentizität ist unbezahlbar, Originalität existiert nicht.”
Obwohl Jarmuschs Filme schon spätestens seit STRANGER THAN PARADISE „gestohlene“ Elemente enthalten, hat sich die Abmischung verändert. In den frühen Filmen geht es um das Teilen von Wissen, um Stil und das Wissen darum, wie man sich durch Stil behaupten kann. Die Zitate und Anspielungen werden praktisch immer benannt, und Jarmuschs Filme wirken manchmal wie Pop-Ratschläge eines großen Bruders, der beim jüngeren ins Zimmer kommt und ihm seine neueste Entdeckung in die Hand drückt. Das popkulturelle Kapital wird aufgebaut wie ein Schutzwall, und es wird genau benannt: „It’s Screaming Jay Hawkins and he’s a wild man, so bug off“, lässt Eva ihren schnöseligen Cousin abblitzen. Manchmal funktionieren die Elemente auch als Waffe, so wie die William Blake-Zitate in DEAD MAN, oder ihr Austausch produziert eine Verbindung, die nicht ausgesprochen werden soll, wie die Lederjacke in DOWN BY LAW, die der Zuhälter Jack (John Lurie) und der DJ Zack (Tom Waits) am Ende tauschen. Jarmusch tauscht nicht nur „Geheiminformationen“ über Meilensteine der (Gegen-)kultur aus, er lässt auch seine Figuren tauschen, bis hin zum „geheimen“ Dichter Paterson, der auf der Straße einer jungen Dichterin begegnen wird, und im Park einem japanischen Literaturliebhaber.
Seit GHOST DOG: THE WAY OF THE SAMURAI (1999), seinem Film über Samurai, HipHop, Yazuka und New York, sind Jarmuschs Filme komplexer geworden. Wie im HipHop sind die einzelnen Zitat-Elemente und Anspielungen nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, und die Motive sind durchmischter. Aber auch GHOST DOG, BROKEN FLOWERS und ONLY LOVERS LEFT ALIVE sind Filme, in denen Literatur und Musik Überlebensstrategien darstellen, wenngleich die Überlebensstrategien der Untoten in LOVERS schon ein wenig müde, hochkulturell und onkelig wirkten. Wenn Vintage-Gitarren-Sammlungen ins Spiel kommen, ist die Gegenkultur am Ende.
Also zu PATERSON. In Jim Jarmuschs Film ist Paterson (Adam Driver) ein Busfahrer in der Kleinstadt Paterson, New Jersey. In seiner Freizeit und während seiner Pausen bei der Arbeit schreibt er Gedichte, die Alltagsbeobachtungen reflektieren. Er lebt mit seiner Frau Laura (Golshifteh Farahani) und der entspannten Bulldogge Marvin in einem kleinen Haus. Der Film begleitet ihr Leben eine Woche lang. Dabei ist Patersons Leben sehr regelmäßig: Der Wecker klingelt, Paterson steht auf, geht zur Arbeit, hört sich die Klagen eines Kollegen an, hört den Gesprächen im Bus zu, kommt nach Hause, isst mit Laura zu Abend, führt den Hund aus und lässt ihn vor seiner Stammkneipe warten, während er ein Bier am Tresen trinkt. Laura, die nicht arbeitet, vertreibt sich die Zeit damit, alle Oberflächen des Hauses mit schwarzweißen, konstruktivistischen Ornamenten zu überziehen, und für den „Farmer’s Market“ am Sonntag Cupcakes zu designen.
Immer wieder geht in PATERSON um den Dichter William Carlos Williams, und dessen populärstes Gedicht „This Is Just To Say“ liest Adam Driver im Film auch vor. Für Eingeweihte ist PATERSON ein Film über die Literatur der amerikanischen Moderne und über den Einfluss der Provinz, und eine Verfilmung von Williams epischem Gedicht, das ebenfalls „Paterson“ heißt, und in der es auch um einen Mann geht, der wie die Stadt heißt, in der er lebt . „Paterson“ ist das monumentalste Gedicht eines der anti-monumentalsten Dichter der amerikanischen Moderne. William Carlos Williams ist eine Art Gegen-Buddha zu den großen kanonisierten Helden der amerikanischen Moderne, dem Faschisten Ezra Pound und dem religiösen Monarchisten T.S. Eliot, und sein Langgedicht „Paterson“ kann man als eine Art Anti-„Cantos“, ein Gegen-„Wasteland“ lesen. Williams war sein Leben lang Arzt in Rutherford, New Jersey, und wie Jarmuschs Paterson schrieb er seine Gedichte in der Freizeit. Im ein paar Kilometer entfernten Paterson hat er selbst nie gelebt, auch wenn das derzeit überall zu lesen ist. Er hat über die Stadt geschrieben, weil sie so viele Motive liefert, vor allen anderen natürlich die Passaic Falls, die Wasserfälle im Park, der heute fast in der Stadtmitte liegt. „Paterson“ ist zwar das längste Werk von Williams, aber bekannt sind vor allem seine kurzen Gedichte wie „This Is Just To Say“.
Williams Gedichte und deren Form orientieren sich an der amerikanischen Alltagssprache und behandeln die Dinge, die ihm in seinem unmittelbaren Alltag begegnen. Williams „Paterson“ ist, wie Jarmuschs Filme, auch eine Collage. In seinem Text gibt es verschiedenste Gedichtformen, aber auch Briefe an und von Williams, Anekdoten aus Magazinen und Tageszeitungen, bei denen nicht immer klar ist, ob Williams sie selbst geschrieben hat. Orte und Szenen aus Williams „Paterson“ kehren in Jarmuschs PATERSON wieder: der Bus, die Fälle, die Kneipe, die Erzählungen von legendären Figuren, die in Paterson geboren sind oder gelebt haben. Die Gedichte, die Paterson schreibt, stammen dagegen eigentlich von Ron Padgett, einem Dichter, dessen alltägliche, bescheidene und humorvolle Gedichte sich auf die Tradition, die Williams begründet hat, beziehen, wie es vor Padgett schon die Beat Poets und die Black Mountain Poets getan haben. Dass in PATERSON an jeder Ecke Zwillinge auftauchen, liegt wohl auch daran, dass Jarmusch PATERSON als eine Art „Zwillingsfilm“ zu Williams Buch sieht.
Williams war ein Dichter der Beobachtung und des Augenblicks. Seine Lyrik träumt weder von epischen Schlachten und Urbanität wie Pounds, noch von Weltuntergängen und spiritueller Rettung wie Eliots. Es ist eine sehr genaue, freundliche, kleinstädtische, manchmal auch ländliche Dichtung. Die Welt, die Jarmuschs PATERSON beschreibt, erinnert ebenfalls an den Traum vom kleinstädtischen Amerika, vom biederen Glück in der heterosexuellen Paarbeziehung, und lässt sogar an die reaktionäre Ideologie des „Make America great again“ denken. Aber Jarmuschs Welt, so nachbarschaftlich sie schon immer gedacht war, ist keine reaktionäre Utopie und vor allem keine rein weiße Welt. Es ist ein Ort, an dem das Paar aus Wes Andersons MOONRISE KINGDOM in Patersons Bus vom Anarchismus träumt, an dem in der Eckkneipe People of Color und Weiße am Tresen sitzen. Lauras manische Hausverschönerungen und ihre niedlichen Cupcakes könnten, bei allem privaten Glück, darauf hindeuten, das Patersons iranisch-stämmige Partnerin womöglich keine Arbeitserlaubnis hat. Jarmusch entwirft eine Gegenutopie eines partnerschaftlichen Amerikas des freien Austausches der Ideen, eine ästhetische Utopie, bei der das Morgenlicht auf den Wänden der alten Fabriken, an denen entlang Paterson zur Arbeit geht, eine ebenso große Rolle spielt, wie die Möglichkeit, dass jede Begegnung in diesem Universum ihren Wert hat. Die jungen Anarchisten in Patersons Bus täuschen sich: Nicht nur sie träumen in Paterson von einem herrschaftsfreien Leben.
USA 2016, 117 min
Sprache: Englisch
Regie: Jim Jarmusch
Drehbuch: Jim Jarmusch
Kamera: Frederick Elmes
Schnitt: Alfonso Gonçalves
Verleih: Weltkino Filmverleih
Darsteller: Golshifteh Farahani, Adam Driver, Sterling Jerins, Jared Gilman, Kara Hayward
Kinostart: 17.11.2016
Vorführungen
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