Neue Notiz
Nomadland
Zwischen Armut und Freiheit
NOMADLAND erzählt von Fern (Frances McDormand), einer schweigsamen, ruhelosen Frau, die nach dem Tod ihres Ehemanns Teil der „Nomaden“ wird, die in Wohnwagen am Rande der Gesellschaft ein Leben zwischen Armut und Freiheit führen.
Cloe Zhaos NOMADLAND hat 2020 nahezu alle wichtigen Oscars gewonnen: für den Besten Film, die Beste Regie und Beste Hauptdarstellerin (Frances McDormand). Nach der emotionalen Wucht ihres herausragenden Films THE RIDER (2017) war es eigentlich nur eine Frage der Zeit und der Anwesenheit mindestens eines Stars in einem Film von Zhao, wann es die ersten Oscars regnen würde. Die Oscars für NOMADLAND sind gerechtfertigt, der Film ist großartig. Wie bereits in SONGS MY BROTHERS TAUGHT ME und THE RIDER, die in der Pine Ridge Reservation in South Dakota gedreht wurden, erzählt Zhao eine psychologische Geschichte vor einem dokumentarischen Hintergrund, und die Landschaftsaufnahmen von ihrem regelmäßigen Mitarbeiter und Kameramann Joshua James Richards sind ähnlich überwältigend. Hier aber werden die Hauptrollen von professionellen Schauspieler*innen gespielt, die Nebenfiguren dagegen spielen sich selbst.
NOMADLAND erzählt von Fern (McDormand), die ihren Ehemann in der ehemaligen Bergbau- und heutigen Geisterstadt „Empire“ bis zu seinem Tod gepflegt hat. Nach der Schließung einer Gips- und Bauteilefabrik ist die Stadt zusammengebrochen. Fern lebt seitdem in einem zum Wohnwagen ausgebauten Van als Nomadin. Der Film beginnt kurz vor Weihnachten, als Fern auf das Gelände einer riesigen Amazon-Lagerhalle fährt, um dort als Zeitarbeiterin zu jobben. Offenbar hat Amazon einen eigenen Campingplatz für nomadisch lebende Arbeiter*innen: Die Finanzkrise von 2007/2008 war für viele US-Amerikaner*innen vor allem eine Immobilienkrise, denn sie verloren mit ihren Hypotheken und ihren Umschuldungsmodellen oft auch ihre Häuser und Wohnungen. Entlang der Landstraßen entstanden große „RV-Parks“ (RV=Recreational Vehicle=Wohnmobil), die die Trailer-Parks mit den vergleichsweise komfortablen Großwohnwagen der 70er-90er Jahre ergänzten. Sie sind eine amerikanische Version der deutschen Dauercampingplätze und Laubenkolonien, in denen ja auch in Deutschland oft Menschen dauerhaft – und hierzulande oft am Rande der Legalität – leben. Fern hat gelernt, mit sehr wenig zu leben, und sie ist darauf bedacht, Begegnungen freundlich, aber nicht allzu herzlich und intim werden zu lassen. Erst als es ihr nicht gelingt, einen Job zu finden, folgt sie der Einladung einer ebenfalls nomadisch lebenden Kollegin bei Amazon, zu einem Treffen von Nomad*innen mit Bob Wells zu fahren. Bob Wells ist ein echter Nomade, wie die meisten Personen, denen Fern auf ihrer Reise begegnet. Wells ist Autor eines Buches über das Leben in Wohnwagen und Vans, betreibt eine Website und bietet kostenlose Youtube-Lektionen über den Lebensstil an. Das „Rubber Tramp Rendezvous“ ist der Höhepunkt des Jahres für seine Organisation „Home on Wheels Alliance“.
NOMADLAND ist zugleich ein Porträt dieses nomadischen Lebensstils am armen Rand der US-amerikanischen Gesellschaft und die Erzählung des Heilungs- und Trauerprozesses, den Fern durchlebt. Der fiktionale Erzählstrang und das dokumentarische Interesse am Nomaden-Lebensstil gehen hier nicht ganz so nahtlos zusammen wie in THE RIDER. Dort erzählte Zhao die reale, gefunden Geschichte eines Cowboys, der nicht mehr reiten durfte und porträtierte seine Lebenswelt. Hier sind die Gespräche, die Frances McDormand mit echten Nomad*innen führt, episodisch in die Handlung eingefügt, aber nur lose mit ihr verbunden. Das hat immer noch eine große emotionale (und politische) Wucht, auch weil Frances McDormand nicht nur die Herzen im Kino zufliegen, sondern sie auch einen Draht zu den Laiendarsteller*innen entwickelt und echtes Interesse an deren Leben zu haben scheint. Aber Zhaos Methode der Immersion in minoritäre Kulturen und der Kombination von dokumentarischen Elementen mit einer gradlinigen Dramaturgie der fiktionalen Erzählung lässt sich nicht endlos fortführen. Sie droht zu einer Masche zu werden, die Außenseiter und Minoritäten zum Authentizität vorgaukelnden Dekor werden lässt. Man wird das in den nächsten Jahren bei Epigonen von Zhaos Stil sehen. NOMADLAND ist vorerst der filmische Höhepunkt eines Stils, der das postdramatische Theater seit einigen Jahren dominiert.
USA 2020, 108 min
Sprache: Englisch
Genre: Drama
Regie: Chloé Zhao
Drehbuch: Chloé Zhao
Kamera: Joshua James Richards
Schnitt: Chloé Zhao
Musik: Ludovico Einaudi
Verleih: Walt Disney Company
Darsteller: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie
FSK: oA
Kinostart: 01.07.2021
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