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Loveless

Im moralischen Vakuum

Andrey Zvyagintsevs schonungsloses Porträt einer zerrütteten Ehe und einer Gesellschaft im Vakuum.

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Lieblos. Den Titel des neuen Film von Andrey Zvyagintsev darf, nein, muss man absolut wörtlich nehmen, so wie man jeden Moment des brillant gefilmten, dabei kalten und auf jegliche Subtexte verzichtenden Dramas beim Wort nehmen kann.

Dass die Eltern des 12jährigen Alyosha (Matvey Novikov) sich nicht mehr lieben, ist schnell deutlich: Noch leben Zhenya (Maryana Spivak) und Boris (Alexey Rozin) zwar gemeinsam in einem Appartement, vielleicht sollte man eher sagen: Sie hausen im selben Käfig, aber zu sagen haben sie sich nichts mehr. Die Ehe ist längst gescheitert, die Wohnung steht zum Verkauf, beide haben schon neue Partner. Boris die jüngere Masha (Marina Vasilyeva), die auch schon schwanger ist, Zhenya den älteren, wohlhabenden Anton (Andris Keishs), für den sie sich in ausgiebigen Sitzungen beim Frisur und der Enthaarung schön macht. Mit dem gemeinsamen Sohn reden sie kaum, er ist beiden bei der Lebensplanung eher im Weg und soll in ein Internat abgeschoben werden. Die Mutter wollte ihn ohnehin nie wirklich haben, der Vater will eine ganz neue Familie. Doch dann verschwindet Alyosha plötzlich, die Polizei macht wenig Hoffnung, eine private Hilfsgruppe organisiert Suchaktionen, die immer intensiver werden, aber erfolglos sind. Alyosha bleibt verschwunden, aber das Leben geht weiter, genauso grau, kalt und lieblos wie eh und je.

Zvyagintsev seziert diese Welt mit seinem typischen, in Filmen wie THE RETURN, ELENA oder LEVIATHAN verfeinerten Stil, in makellos kadrierten Breitwandbildern, die so schneidend und scharf sind wie die Kälte der Emotionen seiner Figuren. Doch wie stets geht es Zvyagintsev nicht nur um das Porträt einiger Menschen, sondern um das Bild einer ganzen Gesellschaft. Und das ist alles andere als schön. Im Autoradio laufen im Hintergrund stets Nachrichten über schwelende Kriege oder wirtschaftliche Nöte, im Fernsehen sind banale Sendungen zu sehen. Besonders Zhenya fängt jeden Moment ihres Lebens mit dem Handy ein, stellt Fotos und Posts von vermeintlich Wichtigem auf den Sozialmedien ein und hat doch längst vergessen, was wirklich wichtig ist. Doch auch Boris ist nicht viel besser: Bei der Arbeit gilt seine größte Sorge der Frage, ob jemand merkt, dass er sich scheiden lässt, denn damit würde er dem Moralkodex zuwider handeln, den orthodoxen Normen, die das russische Leben prägen.

Ausnahmsweise ist es hier nicht speziell die Korruption der Institutionen, die angeprangert wird, so wie etwa in LEVIATHAN, oder auch in Sergei Loznitsas DIE SANFTE, der nächsten Monat ins Kino kommt und im letzten Jahr zusammen mit LOVELESS in Cannes im Wettbewerb zu sehen war. Zwei Filme aus und über Russland, die kaum ein gutes Haar an Putins Reich lassen, die ihre Kritik am System, am Verlust von Moral und Werten unverhohlen und schonungslos darstellen.

Zvyagintsevs Filme sind perfekt durchdacht und inszeniert, mit so offensichtlichem Ausdruckswillen und Intentionen gefilmt, dass sie den Atem rauben. Zu interpretieren gibt es hier nichts, jedes Bild funktioniert unmittelbar, so wie ein Moment, in dem Zhenya im Trainingsanzug mit breitem Russia-Schriftzug auf der Brust auf dem Laufband trainiert – und dabei auf der Stelle läuft. Doch die Oberflächen, die Zvyagintsev entfaltet, sind von solch makelloser Perfektion, so schonungslos in ihrer Darstellung einer moralisch verkommenen Gesellschaft, dass es am Ende vielleicht keine Rolle spielt, dass Zvyagintsev überhaupt keine andere Lesart zulässt, als die von ihm intendierte. Ein offenes, vielfältig interpretierbares Kunstwerk ist LOVELESS nicht, doch in seiner Geschlossenheit von solcher Wucht und Überzeugung, dass dem Sog einer Familie und Gesellschaft im moralischen Vakuum kaum zu entkommen ist.

Michael Meyns

Details

Originaltitel: Nelyubov
Frankreich/Russland 2017, 127 min
Genre: Drama
Regie: Andrei Zvyagintsev
Drehbuch: Oleg Negin
Kamera: Mikhail Krichman
Schnitt: Anna Mass
Verleih: Alpenrepublik
Darsteller: Maryana Spivak, Matvey Novikov, Aleksey Rozin
FSK: 16
Kinostart: 15.03.2018

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