Die Borghettis sind eine gut situierte fünfköpfige Familie, die in den 1970er Jahren in einem neu gebauten Mehrfamilienhaus in Rom lebt. Clara (Penelope Cruz), liebevolle Mama, ist oft sehr lustig, singt und tanzt und hat verrückte Ideen. Ihre Kinder lieben sie sehr, doch das Verhältnis ist getrübt. Vor allem der 12-jährige Andrea (Luana Giuliani) blickt zusehends hinter ihre Fassade auf eine tiefe Traurigkeit. Zum Glück ist Vater Felice (Vincenzo Amato) „der einzige normale Mensch im ganzen Haus“, wie er selbst glaubt - und nicht etwa mit gewaltvollem Verhalten schuld am Leid seiner Familie, die eigentlich alles hat, was man für ein gutes Leben braucht.
Der italienisch-französische Spielfilm L’IMMENSITÀ von Regisseur Emanuele Crialese schält eine Schicht Familienglück nach der anderen weg, um zum Kern vorzudringen: Toxische Männlichkeit, die sich ungebremst über alles hermacht wie eine Feuersbrunst. Mit knalligen Farben, getaucht ins Licht eines nostalgischen Filters, porträtiert der Film eine Zeit, in der Frauen und Kinder durch die Hölle gehen mussten, und die man für keine Ästhetik der Welt zurück haben wollen kann. Einiges hat sich bis heute nicht geändert, etwa die Klassenunterschiede, die Thema werden, als die Kinder am anderen Ende eines Feldes auf Baracken stoßen, in denen Arbeiter*innen leben.
Vor allem Andrea spürt die Ungerechtigkeit so sehr. Er wird wütend, schreit gegen die Stumpfheit der Menschen an und wehrt sich, auch wenn er beinah machtlos ist. Andrea, der von der Familie als Mädchen behandelt wird, ist ein trans Junge. Als wäre sein Leben nicht arg genug, schwebt über allem die Gewissheit, dass er so, wie er ist, in dieser Gesellschaft keinen Platz hat.
Schritt für Schritt enthüllt L’IMMENSITÀ die Geheimnisse der Familie, ohne je gänzlich Klarheit zu schaffen. Die Beiläufigkeit des Elends ist es, was sich dabei so echt anfühlt – die Tatsache, dass auch nach einer Katastrophe das Leben einfach weiter geht (und gehen muss).

Eva Szulkowski