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Das Tier im Dschungel

Warten im Club

In Patrice Chihas Verfilmung der Novelle „The Beast in the Jungle“ von Henry James trifft die junge May einen Mann, John, der auf ein Ereignis wartet, dass sein Leben auf den Kopf stellt. Sie treffen sich immer wieder über Jahrzehnte im gleichen Club und warten.

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Henry James‘ Erzählung „The Beast of the Jungle” ist so etwas wie die Geschichte der Saison. Patrice Chihas Adaption DAS TIER IM DSCHUNGEL kommt im Oktober in die deutschen Kinos, beim Festival in Venedig lief mit Bernard Bonellos THE BEAST eine weitere Version, in dem die Charaktere sich in verschiedenen Jahrhunderten immer wieder begegnen.
Chihas Film verlagert James‘ Novelle von 1903 in die französischen Discos und Clubs der 1970er Jahre bis etwa Mitte des Jahrzehnts dieses Jahrhunderts. Der Film beginnt mit 16mm-Aufnahmen einer Sommerdisco der 70er Jahre auf einem Tennisplatz. Ein Mädchen tanzt ausgelassen, ein Junge im weißen Hemd sitzt schweigsam und still auf der Tribüne. Zehn Jahre später begegnen die Beiden, John (Tom Mercier) und May (Anaïs Demoustier), sich zur Eröffnungsnacht eines Clubs in Paris wieder. Er scheint sich nicht an sie zu erinnern, aber sie behauptet, er habe ihr vor zehn Jahren etwas gesagt, dass sie nie vergessen habe: Er sei davon überzeugt, dass in seinem Leben ein Ereignis stattfinden würde, das alles auf den Kopf stellt. Bevor dieses Ereignis eingetreten sei, habe nichts eine Bedeutung. John glaubt das tatsächlich immer noch, und May ist fasziniert. Gemeinsam warten sie auf etwas, ohne zu wissen worauf, jahrelang. Dabei treffen sie sich immer im Club während Johns Erwartung immer mehr zu einer katastrophischen Vorahnung wird.
Patrice Chiha verbindet diese Geschichte mit einer metaphorischen Vision der Welt als Tanzschuppen. Die Diskothek der 80er Jahre (die Chiha, 1975 geboren, nicht erlebt hat) sieht aus wie ein queerer Club der Post-Lady-Gaga-Ära im Karneval. Die queeren Clubs in Berlin waren in den 80er Jahren um einiges weniger bunt und deutlich härter und eher „High Energy“, aber Paris war schon damals sauberer, hübscher und teurer. Man tanzt eine Mischung aus Vogue und erotischem Ausdruckstanz zu von Jean-Michel Jarre inspirierten Klängen. Die Stimmung ist ekstatisch. Nur John, Nichttänzer, steht daneben. May amüsiert sich mit Freund*innen. Mit AIDS ändert sich das. Der Club leert sich, Sterbende liegen auf der Tanzfläche. Die Tanzenden werden müder. Am Ende sind nur noch die Türsteherin (Beatrice Dalle) und der Klomann (Pedro Cabanas) übrig. Aus dem Trümmerfeld ersteht der Club mit einer neuen Generation, schlechter gekleidet, zu Trance- und Goa-Techno, im Metall-Look mit weißem Licht. Die Ekstase kehrt zurück, aber nicht für die wartenden May und John. Wie in Robert Bressons Filmen trägt John immer die gleiche Kleidung: weißes Hemd, alter Anzug. May, zu Beginn im Glam-Bolero, kleidet sich immer trauriger.
Wenn es in Henry James‘ Erzählung um das Verstreichen der Zeit geht, wegen der Unfähigkeit, sich tatsächlich auf das riskante Leben und die noch riskantere Liebe einzulassen, macht die Verpflanzung in die Clubszene aus der möglicherweise biografisch inspirierten Geschichte – James war nie verheiratet und hatte möglicherweise auch keine sexuellen Beziehungen – eine gesellschaftliche Metapher über Zukunftsangst. Die Disco, der Club wird zum Seelenraum und ist hier, trotz der historischen Einsprengsel, kein historisch eingebundener Raum, sondern einer der privaten Flucht, wie im französischen Dancefloor-Hit „Alors on danse“ von Stromae: „Wer Krise, sagt Welt, sagt Hunger, sagt Dritte Welt, und wer Müdigkeit sagt, sagt Aufstehen, noch taub von der letzten Nacht. Also gehen wir raus, um alle Probleme zu vergessen, also gehen wir tanzen.“

Tom Dorow

Details

Originaltitel: La bête dans la jungle
Frankreich/Belgien/Österreich 2023, 103 min
Genre: Drama, Literaturverfilmung
Regie: Patric Chiha
Drehbuch: Jihane Chouaib, Patric Chiha, Axelle Ropert
Kamera: Céline Bozon
Schnitt: Julien Lacheray, Karina Ressler
Musik: Émilie Hanak, Dino Spiluttini
Verleih: Grandfilm Verleih
Darsteller: Anaïs Demoustier, Tom Mercier, Beatrice Dalle, Martin Vischer, Sophie Demeyer
Kinostart: 05.10.2023

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