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Joker

JOKER ist eine grandiose Origin-Story darüber, wie der unsichere, psychisch kranke Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) zum Schurken „Joker“ wird.

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Bei den Filmfestspielen von Venedig wurde der JOKER gefeiert und mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet – der erste bedeutende Filmpreisgewinn für die Verfilmung eines DC- oder Marvel-Comics überhaupt – und mit euphorischen Kritiken überhäuft. Nach dem Festival kam die unausbleibliche Gegenreaktion, wie das bei Überraschungserfolgen üblich ist: Es hagelt seit Wochen Verrisse für Todd Phillips JOKER. Einige davon sind sicher durch die gewöhnliche Enttäuschung nach dem Hype zu erklären, andere durch den Diskursmarkt bedingt, der solche Meinungsbewegungen immanent produziert. Aber es gibt auch interessante Einwände, etwa Richard Brodys Kritik im New Yorker, in der Brody den Film im Hinblick auf seine filmischen und realen Einflüsse hin abklopft und vor allem in der Behandlung von rassistisch aufgeladenen Szenen eine „selten betäubende Leere“ vorwirft. Dazu später.

Todd Phillips eigene Filmografie als Regisseur gibt wenig Hinweise auf dessen Filmkunst-Ambitionen. Phillips hat drei Kumpel-Klamotten (HANGOVER) gedreht, die manche Männer offenbar ganz lustig fanden, und ganz am Anfang seiner Karriere mal eine Doku über GG Allin, den mindestens halb psychotischen, heroinsüchtigen Punk, der sich auf seinen Konzerten mit seinen eigenen Fäkalien beschmierte und sich für die Vollendung des Rock’n’Roll hielt. GG Allin-Fans sind mitteljunge weiße Männer, die hart nach irgendeiner Kante suchen. Vielleicht liegt da ein Hund begraben.

JOKER ist eine Origin-Story darüber, wie der unsichere, psychisch kranke Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) zum Schurken „Joker“ wird. Der Film hat nichts mit dem „DC-Universum“ zu tun, sondern ist eine Einzelerzählung. Das ist schade, denn das Universum, in dem dieser JOKER spielt, ist wesentlich interessanter als das offizielle DC-Universum. Gotham/New York in den 70er Jahren. Die Müllabfuhr streikt, Riesenratten machen die Straßen und Wohnhäuser unsicher. Arthur Fleck arbeitet bei einer Clown-Agentur, für die er auf der Straße Werbeschilder trägt. Er träumt davon, Stand-Up Comedian zu werden, aber seine Witze finden andere nicht komisch („I hope my death makes more cents than my life“). Arthur hat eine Zwangsstörung, die ihn in Stresssituationen zu lautem Lachen veranlasst, er lebt in einer heruntergekommenen Wohnung mit seiner kranken Mutter. Als die Stadt die Subventionen für Arthurs Therapeutin und seiner Medikamente streicht, beginnen Arthurs Halluzination und sein Größenwahn außer Kontrolle zu geraten.

Die Ausgangssituation von JOKER stammt aus dem Comic „The Killing Joke“ von Alan Moore (Story) und Brian Bolland (Zeichnungen), in dem zum ersten Mal der Möchtegern-Komiker Arthur Fleck auftauchte, und das seinerseits von Martin Scorseses THE KING OF COMEDY (1982) inspiriert war, in dem Robert de Niro den Möchtegern-Komiker Rupert Pupkin spielte, der sein Idol, den Showmaster Jerry Langford (Jerry Lewis) kidnappt, um einen Auftritt in dessen Show zu bekommen. Robert de Niro spielt im JOKER die Rolle des nicht sonderlich komischen Showmasters Murray Franklin, in dessen Show Arthur auftreten möchte. Der Bezug zur Film- und Pop-Kultur der späten 70er/frühen 80er Jahre in Joker geht aber weit über die KING OF COMEDY/“The Killing Joke“-Referenz heraus. Es gibt eine Verfolgungsjagd in der U-Bahn, in die mindestens ein Teil THE FRENCH CONNECTION (1971) , und ein Teil MANIAC eingeflossen sind. Setdesign und Kamera evozieren vor allem das New Hollywood-Kino von Scorsese und William Friedkin, aber es gibt auch Szenen, die eher an italienischen Giallo, und Detailaufnahmen, die an Comic-Zeichnungen erinnern.

Am interessantesten sind allerdings die Verweise auf reale Ereignisse, die Richard Brody in seiner Kritik herausgearbeitet hat. Wenn Arthur zu Beginn des Films von fünf Schwarzen Jugendlichen überfallen und verprügelt wird, versteht Brody das als Anspielung auf die „Central Park Five“, fünf Schwarze Jugendliche, die 1989 fälschlich beschuldigt wurden, eine weiße Joggerin vergewaltigt zu haben und zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Arthurs ersten Morden in der U-Bahn setzt er in Bezug zum Fall des Weißen Bernhard Goetz, der 1984 in der New Yorker U-Bahn auf vier junge Schwarze Männer geschossen hatte und trotz rassistischer Äußerungen freigesprochen wurde. Im JOKER sind es allerdings vier privilegierte weiße Männer, die Arthur bedrängen, der gerade einen Lachanfall hat. Brody nennt das „Whitewashing“, aber ganz so eindeutig ist der Fall hier nicht. Die Szene ist auch ein Echo der US-Debatten über leichte Strafen für privilegierte weiße junge Männer in den USA, wie Brook Turner, den Leistungsschwimmer der Stanford Universität, der zwar wegen Vergewaltigung verurteilt wurde, aber nur eine Haftstrafe von drei Monaten absitzen musste. Das Thema von Klassenjustiz und Klassenprivilegien spiegelt sich auch in einer Szene, in der Bruce Waynes Vater Thomas Wayne Demonstranten, die gegen die Streichungen im Sozialsystem demonstrieren als „Loser“ und „Clowns“ bezeichnet – ein Echo von Hillary Clintons Rede über „Deplorables“ (dt. in etwa „Jammerlappen“). Arthur selbst ist direkt und persönlich von Waynes antisozialer Haltung betroffen.

JOKER ist ein Film über Klassenverhältnisse aus einer Perspektive von ganz unten. Es ist eine weiße Perspektive, und Brody schließt daraus, dass der Film den Republikanern in die Hände spielt, womit er nicht ganz unrecht hat. So eindeutig JOKER die Klassenverhältnisse zeigt, die Rassenpolitik des Films ist mindestens uneindeutig. Inzwischen haben das US-Militär und Überlebende von Amokläufen vor dem Film gewarnt, weil sie Nachahmer befürchten, vor allem aus der Incel-Szene, deren Mitglieder sich selbst als permanente Verlierer im Geschlechterkampf sehen. Das ist zugleich absurd und – so absurd wie die Gesellschaft gerade ist – dennoch nicht unmöglich. Allerdings sind die Clownsmasken in JOKER nicht annähernd so cool wie die V FOR VENDETTA-Masken, die das internationale halb linke, halb rechtsextreme „Anonymous“-Netzwerk inspirierten, und selbst wenn man Arthur Fleck/JOKER als einen rechten Rebellen versteht, eignet sich die Figur kaum zur Identifikation. Arthur ist zu erbärmlich, zu traurig und zu krank, um zum Helden zu taugen. Seine Figur erregt vor allem Mitleid.

Joaquin Phoenix spielt seine Rolle mit radikalem körperlichen Einsatz. Er sieht hier halb verhungert aus, sein Gang wirkt, als hätte der junge, hektische Robert de Niro aus Scorseses MEAN STREETS Clownsschuhe an die Fußsohlen genagelt. JOKER ist ein Triumph des Schauspielers als Bewegungskünstler. In den grotesken Tänzen, die Phoenix aufführt, kommt sein JOKER zu sich und wirkt bedrohlicher und verrückter als Jack Nicholsons oder Heath Ledgers Versionen es je waren. Nur zeigt dieser Joker nicht die Bedrohung durch ein überlegenes Böses, sondern durch den alltäglichen Wahnsinn. In JOKER geht es um das Verrücktwerden der Unterdrückten. Wenn die tatsächlich einmal durchdrehen – oder bereits durchgedreht sind – liegt das sicher nicht an diesem tatsächlich grandiosen Film.

Tom Dorow

Details

USA 2019, 118 min
Sprache: Englisch
Genre: Drama, Krimi, Thriller
Regie: Todd Phillips
Drehbuch: Todd Phillips, Scott Silver
Kamera: Lawrence Sher
Schnitt: Jeff Groth
Musik: Hildur Guðnadóttir
Verleih: Warner Bros.
Darsteller: Joaquin Phoenix, Zazie Beetz, Robert De Niro, Frances Conroy, Bill Camp, Shea Whigham
FSK: 16
Kinostart: 10.10.2019

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