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Innen Leben – Insyriated

Leben im Belagerungszustand

Familie Yazan und ihre Nachbarn halten als letzte die Stellung in einem Wohnhaus in Damaskus, das von Scharfschützen umgeben ist. Draußen herrscht Ausnahmezustand, doch auf dem Küchentisch liegt die Tischdecke, die Hausangestellte trägt Schürze und mittags wird zusammen gegessen.

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Fünf abgedunkelte Zimmer, ein Bad und eine Küche mit beengten Fenstern zur Welt: Das ist der ganze, sichtbare Kosmos, in dem sich Philippe Van Leeuws INNEN LEBEN (INSYRIATED) innerhalb eines Tages abspielt. Virginie Surdejs Kamera verschanzt sich hinter Vorhängen, blickt durch Schlitze, Türspalten, Gitter auf das Draußen, das aus Trümmern und Ruinen – den Überresten einer Stadt – besteht.

Damit übernimmt sie konsequent die Sicht ihrer Protagonisten: Familienmutter Oum Yazan und ihre drei Kinder Yara, Aliya, Yazan, ihr alter Schwiegervater, der Freund ihrer Tochter, die Hausangestellte Delhani, und die junge Nachbarin Halima, deren Mann, und Baby, leben in Damaskus, Syrien. Schon lange wütet der Bürgerkrieg und sie halten als letzte die Stellung in ihrem Wohnhaus, das von Scharfschützen umgeben ist. Es zu verlassen, es ist hochgefährlich, und Oum Yazans Mann sollte bald von draußen zurückkehren. Die Wasserreserven neigen sich dem Ende zu, die Milchvorräte sind geplündert, die Eingangstür verbarrikadiert. Draußen herrscht Ausnahmezustand, doch auf dem Küchentisch liegt die Tischdecke, die Angestellte trägt Schürze und mittags wird zusammen gegessen.
Das kleine Stück Normalität, das hier noch zu funktionieren scheint, wird allein durch Oum Yazan aufrecht gehalten (grandios und unbeirrbar gespielt von Hiam Abbass), die jeden an seine zu erledigenden Alltagsaufgaben – Wasser holen, Tisch decken – erinnert und Essen kocht. Während die Bilder Alltag simulieren, ist der Krieg auf der Tonspur ständig präsent: Draußen schlagen Kugeln und Bomben ein, ein lautes Klopfen an der Tür deutet auf Plünderer auf der Suche nach Wertsachen.

In Van Leeuws intensivem Kammerspiel schrumpft der Bewegungsraum der Überlebenden immer weiter. Am Ende ist die Küche der einzige Schutzraum, das Zentrum im abgeschotteten Wohnungsuniversum, umgeben von Tod und Zerstörung. Als zwei Männer in die Wohnung einbrechen, verharren alle Bewohner in der Küche eingesperrt - bis auf Halima, die, von allen hörbar, von den Einbrechern geschlagen und vergewaltigt wird. Opfert man in solch einem Horror seine Humanität für das Wohl der eigenen Familie? Hätte Oum Yazan helfen, und das Risiko, dadurch ihre Kinder in Gefahr zu bringen, eingehen sollen? INSYRIATED wertet nicht und überlässt die Beantwortung dieser Fragen den Zuschauern.

Das arabische Kino, und speziell das syrische, ist in den letzten Jahren in das internationale Scheinwerferlicht gerückt: Vor allem Dokumentarfilme wie SILVERED WATER: A SYRIA SELF-PORTRAIT (Usama Muhammad und Wiam Simav Bedirxan), THE WAR SHOW (Obaidah Zytoon) und SKIN (Afraa Batous) erzählen sehr persönliche Geschichten über ein Land, das seit dem Krieg nicht mehr wiederzuerkennen ist. Sara Fattahi porträtiert in ihrem experimentellen Dokumentarfilm COMA über ihre Mutter und Schwester eine ganz ähnliche Situation wie Philippe Van Leeuw in INNEN LEBEN: Während an anderen Orten der Stadt unvorstellbarerweise Autos fahren und Menschen auf dem Markt einkaufen gehen, ist ihr Leben ebenso eingeschränkt bis aufs Äußerste – die Wohnung zu verlassen, wäre ein Spiel mit dem Tod.

In INNEN LEBEN - der deutsche Filmtitel hebt den klaustrophobischen Charakter noch stärker hervor – existiert nur noch die sicher auch psychologisch zu lesende Innenwelt. Der Film erzählt vom Leben im Belagerungszustand. Er widmet sich den Unsichtbaren, die auf medialen Kriegsbildern selten erscheinen, weil sie drinnen sind: den Zivilisten, Frauen, Alten, Kindern, zwar weit entfernt vom Schlachtfeld, aber ebenso unfrei und traumatisiert.

INNEN LEBEN (INSYRIATED) wurde auf der Berlinale mit dem Panorama Publikumspreis ausgezeichnet.

Lili Hering

Details

Originaltitel: InSyriated
Belgien 2017, 85 min
Genre: Drama
Regie: Philippe Van Leeuw
Drehbuch: Philippe Van Leeuw
Kamera: Virginie Surdej
Schnitt: Gladys Joujou
Musik: Jean-Luc Fafchamps
Verleih: Weltkino
Darsteller: Hiam Abbass, Diamand Abou Abboud, Juliette Navis
FSK: 12
Kinostart: 22.06.2017

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