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El prófugo – The Intruder

Berlinale-Wettbewerb: Kreuzungen, Verschränkungen

Die fantastische Thriller-Handlung verliert sich etwas in den zahlreichen Verschränkungen und Überkreuzungen, aber wer an der dritten Staffel von „Twin Peaks“ oder an lacanianischer Psychoanalyse Spaß hatte, wird hier auch ganz spannende Ansätze finden.

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Die Argentinierin Ines (Erica Rivas) synchronisiert japanische Fetisch-Action-Horrorfilme. Vor dem Flug in den Urlaub in Mexiko beginnt ihr aufdringlicher neuer Freund Leopoldo (Nahuel Pérez Biscayart) einen Streit mit der Flugbegleiterin und nervt Ines solange, bis die eine Tablette gegen die Flugangst von ihm nimmt. Wenn man nicht schon die doppelten Sprachfassungen und Bildüberlagerungen in der ersten Szene rechnen will, ist das die erste von zahlreichen Bifurkationen des Films. Bifurkationen sind Szenen, die so konstruiert sind, dass alles auf sie Folgende mindestens auf zwei Arten verstanden werden kann: als real und als imaginär, als lebendig oder tot etc. Unfälle, Schlaf, Drogen, Operationen und ähnliches sind beliebte Übergänge dieser Art, David Lynch kennt noch ein paar andere. Während Ines im Flugzeug schläft, träumt sie, dass auf dem in den Sitz eingelassenen Bildschirm vor ihr jemand an eine Scheibe klopft, dann weist die Flugbegleiterin sie darauf hin, dass Leopoldo nicht der richtige Mann für sie ist und bietet an, ihn sofort für sie umzubringen. Sie erwacht, aber möglicherweise nicht in der gleichen Realität. Leopoldo nervt weiter und will dauernd hören, dass sie ihn liebt und mit wem sie im Schlaf gesprochen hat. Das eskaliert so weiter vor sich hin, bis Ines sich im Badezimmer einschließt (noch eine Bifurkation), von wo aus sie Geräusche eines Kampfes hört, und dann liegt Leopoldo tot im Swimmingpool.
Zwei Wochen später ist Ines zuhause, wo unangekündigt ihre Mutter auftaucht. Ines, von der Leopoldo zuvor gesagt hat, sie würde nicht singen, ist nun auch Sopranistin in einem Chor, aber sie mimt nicht einmal die typischen Mundbewegungen richtig. Irgendetwas stimmt nicht mit ihrer Stimme, und auch beim Synchro-Job nimmt das Band merkwürdige Nebengeräusche auf. Ines vermutet, dass irgendetwas oder irgendjemand in ihr ist, der, die oder das da nicht hingehört.
EL PRÓFUGO ist der zweite Langfilm von Natalia Meta. Meta hat Philosophie studiert und war als Verlegerin tätig, bevor sie 2014 ihren ersten Film drehte. Ihrem Meta-Thriller (sorry) merkt man den philosophischen Hintergrund deutlich an, manchmal ein bisschen überdeutlich. Es postmodernt an alle Ecken und Enden, die vielleicht gar keine Ecken und Enden sind, sondern nur wieder auf andere Ecken und Enden verweisen, die wiederum usw. Irgendwie geht es auch um Begehren und schließlich taucht ein zarter „manic dream boy“ auf, der um Ines herum tanzt und hauptberuflich Orgeln stimmt, die phallischsten aller penisähnlichen Instrumente. Metas Film ist so inszeniert, dass selbst Konzertsäle von bedrückender Enge bestimmt sind. Die Oberflächen wirken hier brüchig und staubig, auch wenn Ines Mutter den ganzen Film über putzt, bis sie selbst weggeputzt wird. Die fantastische Thriller-Handlung verliert sich etwas in den zahlreichen Verschränkungen und Überkreuzungen, aber wer an der dritten Staffel von „Twin Peaks“ oder an lacanianischer Psychoanalyse Spaß hatte, wird hier auch ganz spannende Ansätze finden.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: El profugo
ARG / MEX 2020, 90 min
Genre: Horror, Psychothriller
Regie: Natalia Meta
Drehbuch: Natalia Meta
Darsteller: Erica Rivas, Nahuel Perez Biscayart, Daniel Hendler

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