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Einsamkeit und Sex und Mitleid

Sozialsurrealistische Seifenoper

Insgesamt 13 Protagonisten kämpfen sich in Lars Montags Bearbeitung von Helmut Kraussers Episodenroman durch ihre kleinen Dramen, auf der Suche nach Liebe, nach dem Glück, nach sich selbst, einem Freund oder einfach nach dem Punkt, an dem es alles schiefgelaufen ist.

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Es ist aus. „Für immer. Erstmal.“, sagt die Frau im Supermarkt. Der zwangspensionierte Lehrer Ecki muss jetzt sehr stark sein. Seine geliebten Wurstabschnitte werden nicht mehr verkauft. Zum Trost gibt es eine Scheibe Mortadella. Aber der Schmerz sitzt tief. Alleine mit seinem Papagei hockt er in seiner Messiehöhle und grübelt über die neueste Ungerechtigkeit in seinem Leben.

Woanders in der Stadt sinniert der Familienvater und Hobbyimker Robert, welchen Zweck er noch erfüllt. An sich ist alles erreicht: Ein schönes Haus, eine Frau, zwei Kinder. Dass seine Frau nicht mehr mit ihm schläft, ist ja okay. Aber jetzt ist sie vegan und meint, er soll sich von seinen Bienen trennen. Die brauchen ihn doch wenigstens noch. Dass seine Tochter zeitgleich überlegt, ob sie sich für EUR 100 von einem ‚Arab‘ lecken lassen soll, weiß er gar nicht.

Die Ärztin Julia ist da schon weiter. Wenn sie die Sehnsucht quält, bestellt sie sich per Tablet einen Callboy, der alles genau so macht, wie sie es haben will. Sie hat da sehr klare Vorstellungen, und ist sexuell autonom. Ihr Fast-schon-Ex-Mann kann ja eh nichts, außer über Gin und Wurstabschnitte referieren.

Das sind nur wenige der insgesamt 13 Protagonisten, die sich in Lars Montags Bearbeitung von Helmut Kraussers Episodenroman durch ihre kleinen Dramen kämpfen, auf der Suche nach Liebe, nach dem Glück, nach sich selbst, einem Freund oder einfach nach dem Punkt, an dem es alles schiefgelaufen ist. Natürlich sehen sie sich als Helden oder tragische Opfer, aber zwangsläufig sind sie manchmal auch Nebenfiguren oder reine Objekte in den Dramen der Anderen. Ähnlich wie in Robert Altmans SHORT CUTS überschneiden und beeinflussen die Geschichten einander, bis sich das vollständige Bild ganz zum Schluss erschließt. Da singt das ganze Ensemble in individueller Einigkeit den Peter-Maffay-Schlager “Du“ und meint doch jemand anderes. Und dann kommt der große Hammer und haut die Platte kaputt.

Genau wie der Titel die Nationalhymne der aktuellen Befindlichkeit des Landes anpasst, bietet der Film einen Querschnitt durch ein Deutschland, das man nicht wiedererkennen möchte. Hier sieht man durchweg Bildungsbürger, die ihre unerfüllten Wünsche in einem nach außen grundsoliden Leben verstecken und alles nutzen, was das 21. Jahrhundert an Ersatzbefriedigungen bietet. Wozu gibt es schließlich Datingportale, Anger Rooms und Silent Discos? Sie dabei zu beobachten, wie sie sich vor der Konfrontation mit ihren wahren Wünschen und einander drücken, ist oftmals brüllend komisch, dann schockierend und dann traurig. Dann aber auch gleich wieder lustig.

Was diesen Film von dem ähnlich zynischen SCHWARZE SCHAFE unterscheidet, ist, dass, wo die SCHAFE wild hingerotzt wirkten, EINSAMKEIT auch visuell genau geplant und durchdesignt ist. Die Stadt der Einsamen ist so modern-steril wie ein Supermarkt. Darin findet man aber für jeden Handlungsstrang eine eigene thematische Farbe, die mal in kleinen Details auftaucht und mal als Licht den ganzen Raum durchflutet, als würden die Leidenschaften der Charaktere versuchen, in die ‚anständige‘ Welt durch zu brechen. Jedes Bild ist so präzise wie ein Gemälde entworfen, in dem die Figuren sich bewegen, aus dem sie aber nie entfliehen können. Durch alles zieht sich als harmonisches Leitmotiv ein Vogelschwarm und der Gesang eines Jugendchores. Aber der Himmel ist das nicht.

Filme, die sich trauen, eine dermaßen komplexe Geschichte zu erzählen und dies so großartig hinbekommen, findet man nicht oft. So fordernd der Film auch emotional ist, so sehr macht es doch auch Spaß, sich diese hochkomprimierte sozialsurrealistische Seifenoper anzuschauen. Und sagen Sie hinterher mal nicht, dass sie sich darin nicht wiedergefunden haben.

Christian Klose

Details

Originaltitel: Einsamkeit & Sex & Mitleid
Deutschland 2017, 119 min
Sprache: Deutsch, Arabisch
Genre: Komödie, Drama
Regie: Lars Montag
Drehbuch: Helmut Krausser, Lars Montag
Kamera: Mathias Neumann
Schnitt: Marc Schubert
Musik: Konstantin Gropper
Verleih: X-Verleih
Darsteller: Maria Hofstätter, Jan Henrik Stahlberg, Bernhard Schütz, Friederike Kempter, Rainer Bock
FSK: 16
Kinostart: 04.05.2017

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