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Die Mittagsfrau

Geschichte einer Traumatisierung

In den 1920er Jahren bricht Helene voller Zuversicht nach Berlin auf. Sie will Abitur machen und Ärztin werden. Doch die Aufbruchstimmung, die nicht nur Helenes persönliche ist, wird von den Nazis im Keim erstickt. Nach dem gleichnamigen Roman von Julia Franck

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Eine der schönsten Szenen und zugleich eine Schlüsselszene in DIE MITTAGSFRAU ist eine Party. Die Schwestern Helene (Mala Emde) und Martha (Liliane Amuat) sind endlich dem Leben auf dem Land und dem Regime ihrer geisteskranken Mutter entkommen und stehen nun im Berlin der 1920er Jahre vor der Belle Etage-Wohnung einer mondänen Tante. Hinter der Tür empfängt sie eine ausufernde Party und mit ihr die große Freiheit. Helene in ihrer Dorfstrickjacke driftet von Raum zu Raum, schaut eine Weile einer Orgie zu und hält Händchen mit einem schwulen Paar. Ihre Erleichterung und Freude sind greifbar, auch wenn sie, anders als ihre Schwester, gar nicht nach Exzess sucht. Helene will Abitur machen und Ärztin werden. Sie kommt gut voran und trifft in Karl (Thomas Prenn) die Liebe ihres Lebens. Doch die Aufbruchstimmung, die nicht nur Helenes persönliche ist, wird von den Nazis im Keim erstickt. Karl wird bei einer Demonstration ermordet, und Helene droht, die Arbeit zu verlieren, wenn sie keinen Ariernachweis beibringen kann. In der Not heiratet sie Wilhelm (Max von der Groeben), einen Mann wie aus Theweleits „Männerfantasien“, einen Mann, den eine sexuell aktive Frau verstört, der Helene die Arbeit verbietet und ihr ein Kind macht, das sie nicht will.

Die exaltierte, oft mit Gegenlicht inszenierte Fröhlichkeit vom Anfang des Films wird zu einer kalten, bleiernen Schwere. Die labyrinthischen Abenteuerräume der Altbaumwohnung verschwinden, die Avantgardemalereien werden abgehängt, die lebhaften Freundinnen emigrieren, die lesbische Schwester taucht mit ihrer Freundin unter. Statt zu beschwingtem Klezmer tanzt Helene auf ihrer verregneten Hochzeit zu einer derben Polka. Danach sitzt sie mit manchmal mit Wilhelm, aber zumeist allein in einer leeren Bauhausneubauwohnung, deren Lampen ein so kaltes graues Licht abgeben, als wäre die LED-Leuchte schon erfunden. Die Freude an der mit Karl entdeckten Körperlichkeit ist nur noch eine Erinnerung. Die Geburt des Sohnes ist brutal, das Stillen ebenso. Der soldatische Mann sagt: „Warum lässt du dich so gehen?“

Nach dem Roman von Julia Franck erzählt Barbara Albert (NORDRAND, BÖSE ZELLEN), wie gesellschaftliche, physische und psychische Gewalt aus Helene nach und nach eine traumatisierte Person machen - die sich schließlich in einem verzweifelten, zerstörerischen Akt gegen die Vereinnahmung wehrt. Barbara Albert inszeniert ihren Film bewusst stilisiert, versieht ihn mit einer mythologischen Dimension und einer bedeutungsschweren Rahmenhandlung. Zugleich sind Gewalt und Sexualität direkter dargestellt als in den meisten Historienfilmen. Albert konzentriert sich ganz auf die Interaktionen im Privaten, vor allem unter Frauen. Die politischen Ereignisse, Krieg und Nazismus spielen insofern eine Rolle, als sie diese Sphäre immer enger werden lassen, und die Interaktionen verängstigter, freudloser.

DIE MITTAGSFRAU macht viele Dinge, die ich in Filmen eigentlich nicht mag. Von einer Unterwasserszene mit lachenden Menschen ganz zu Anfang und verliebten jungen Leute, die nackt durch nächtliche Straßen rennen, über eine Margarete von Trotta-artige Ernsthaftigkeit bis hin zur Rahmenhandlung, die die Geschichte in ein „wie konnte es dazu kommen“ verwandelt. Die Metapher der Mittagsfrau wird einem wenig subtil immer wieder aufs Auge gedrückt, und mit dem Ende konnte ich wenig anfangen. Aber zugleich findet Albert Wege, um historische Szenen auf eine wirklich eigene Art, mit einem präzisen Fokus auf weibliches Erleben zu erzählen – was im Kino immer noch selten ist.

Da ist zum Beispiel jene andere Party, Helene und Martha sind schon lange zu einheimischen Bubikopf-Berlinerinnen avanciert. Im Bad bedrängt der Beau der Tante auf einmal Helene und steckt ihr seine Zunge ins Ohr. Die ekelt sich. Die Tante sieht es von Ferne und lotst ihn weg. Helene wäscht sich das Ohr aus und feiert weiter. Die Szene hat keinerlei Relevanz für die ohnehin schon umfangreiche Geschichte, aber sie wirft im Vorbeigehen einen Blick auf männliche Alltagsgewalt, weibliche Solidarität und weibliche Resilienz.

Hendrike Bake

Details

Deutschland/Schweiz/Luxemburg 2023, 136 min
Genre: Drama, Literaturverfilmung
Regie: Barbara Albert
Drehbuch: Meike Hauck
Kamera: Filip Zumbrunn
Schnitt: Martin Arpagaus, Sophie Blöchlinger
Musik: Kyan Bayani
Verleih: Wild Bunch
Darsteller: Mala Emde, Max von der Groeben, Thomas Prenn, Esmée Liliane Amuat, Fabienne Eliane Hollwege
Kinostart: 28.09.2023

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