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Die Bologna Entführung – Geraubt im Namen des Papstes

Pomp auf Pomp

Marco Bellocchios Historiendrama DIE BOLOGNA-ENTÜHRUNG ist ein Film über die Macht der Ideologie – hier in ihrer brutalsten, also religiösen Ausprägung – über das Denken des Individuums.

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Marco Bellocchios Historiendrama DIE BOLOGNA-ENTÜHRUNG ist ein Film über die Macht der Ideologie – hier in ihrer brutalsten, also religiösen Ausprägung – über das Denken des Individuums. Ausgangspunkt ist die Entführung des sechsjährigen Edgardo Mortara, die 1958 im Auftrag des Inquisitors der Kurie erfolgte. Die katholische Kirche hatte eine ehemalige Magd der jüdischen Familie Mortara bezahlt, die behauptete, sie hätte Edgardo, als dieser krank war, heimlich getauft. Im Risorgimento nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft über Italien hatte der Kirchenstaat große Gebiete im Nordosten Italiens erhalten, die auch Bologna einschlossen. Edgardo wurde von den Autoritäten entführt und in einem kirchlichen Internat gehirngewaschen.
Bellocchio erzählt die Geschichte der Entführung und Umerziehung und der vergeblichen Bemühungen der Familie und der jüdischen Gemeinden mit maximalstem Pathos, das er aber nicht hauptsächlich einsetzt, um melodramatisches Mitgefühl zu erzeugen, sondern als eine Art politisches Analyseinstrument. Die Musik stammt von den wuchtigsten Kitschkomponisten der letzten 150 Jahre, vor allem von Rachmaninov und Arvo Pärt. Die Bildsprache mobilisiert die ganze Kunstgeschichte: häusliche Szenen im Hause Montara haben den Look der holländischen Genremalerei mit ihren Fluren und gestaffelten Perspektiven, Außenaufnahmen – vor allem eine wiederkehrende Szene am Fluss Reno – erinnern an die holländische und italienische Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts. Die Bilder der Entführung und des Transports von Edgardo auf einer Barke den Fluss hinunter erinnern an den Anfang von den Theodor Dreyers Stummfilmklassiker VAMPYR, der wiederum von Expressionismus und Spätromantik inspiriert ist. Expressionistisch wirkt auch das Spiel der Darsteller*innen in den dramatischsten Szenen, vor allem die Verzweiflung von Edgardos Mutter und der Zusammenbruch des Vaters nach dem abschließenden Prozess. Bellocchio türmt Pomp auf Pomp, bis in seinem Film keine Luft zum Atmen mehr bleibt. Und genau darum geht es: Die Inszenierung der kirchlichen Macht, deren Bilder, Rituale und Architektur den Willen Edgardos brechen und ihm keine Chance lassen. Nur in zwei Szenen bricht sich in Edgardo etwas Raum, und das ist dann wirklich bewegend.
Die BOLOGNA-ENTFÜHRUNG ist ein meisterhafter politischer Film über die Kommunikationswege der Macht, unter denen die Künste eine privilegierte Rolle einnehmen. Das ist heute nicht wesentlich anders, auch wenn die Medien sich geändert haben. Als einflussreichster Film, der direkten Einfluss auf die Wirklichkeit hatte, gilt übrigens keine Polit-Doku, sondern der vom US-Militär kofinanzierte TOP GUN (1986), nach dessen Start die US Air Force einen signifikanten Zuwachs an Bewerbern verzeichnete.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Rapito
Italien/Deutschland/Frankreich 2023, 125 min
Genre: Drama, Historienfilm
Regie: Marco Bellocchio
Drehbuch: Marco Bellocchio, Susanna Nicchiarelli, Edoardo Albinati, Daniela Ceselli
Kamera: Francesco Di Giacomo
Schnitt: Francesca Calvelli, Stefano Mariotti
Verleih: PANDORA
Darsteller: Paolo Pierobon, Enea Sala, Leonardo Maltese, Barbara Ronchi, Fabrizio Gifuni, Filippo Timi, Corrado Invernizzi
Kinostart: 16.11.2023

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