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Climax

Wir sind zuhause

Eine multiethnische Truppe tanzt die unendliche erotische Lebenswut und Glücksverwirrung. Dann tut jemand Drogen in die Sangria, und Hass und Paranoia brechen sich Bahn. CLIMAX sei sein politischster Film, hat Gaspar Noé gesagt.

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CLIMAX ist nicht die Geschichte einer Eskalation, eher die einer Erschlaffung. Ein Körper robbt sich durch den Schnee und stirbt, die Kamera schwenkt vom Weiß des Himmels in einen Baum und von dort wieder in das Weiß des Schnees, als hätte die kahle Krone keinen Stamm. Dann der Abspann: Sie sahen einen Film von Gaspar Noé. So geht das los, mit einem Ende als Vorspann. Dann Interviews mit Tänzern und Tänzerinnen, auf einem kleinen Röhrenfernseher abgespielt, der in einem Regal steht, das auf der einen Seite mit Videos, auf der anderen mit Büchern vollgestapelt ist. Ein Cineasten- und Hip-Intellektuellen-Regal, das Inspirationen herzeigt, aber auch zu Tarantino-mäßigen Zitatspielchen einlädt: Sag mir woher die Szene kommt. Frankreich sei ja das beste Land für Tanz überhaupt, die Kultur etc. pp., schwärmt die Choreografin, dann zeigt das Bild die französische Fahne, in Glitzeroptik, die über der Probebühne der Tanztruppe hängt. CLIMAX sei sein politischster Film, hat Gaspar Noé gesagt. Der DJ verkündet, jetzt werde man es den Amerikanern zeigen, und die rasante Choreografie beginnt, in Noés typischem, flüssig-hypnotischen Stil, mit einer mal stationären, mal entfesselten Kamera gefilmt: Eine multiethnische und multinationale Truppe tanzt die unendliche erotische Lebenswut und Glücksverwirrung. Der Sound ist aus den 90ern, teilweise auch älter, wie Patrick Hernandez´ Disco-Kracher „Born to Be Alive“. Das hat eine körperliche Energie, wie man sie im europäischen, ach was, im Weltkino nur selten sieht.

Bei der Party nach der Performance hat jemand irgendeine nicht genauer bezeichnete Droge in die Sangria getan, eine teutonische Liebesgöttin pisst auf den Tanzboden, der Untergang beginnt. Schon vorher, als der Raum noch von erotischer Ladung und drohender Zurückweisung, von Gewalt und Lust vibrierte, hatten weiße und schwarze Jungs, in ihren jeweiligen Ecken des Partyraums debattiert, wen sie als erstes, zweites und drittes in welcher Stellung heute noch flachlegen wollen. Jetzt beginnen Paranoia und Aggression. Ein Schuldiger wird gesucht, zu schnell gefunden und ausgestoßen. Von der Party-Gemeinde bis zum Lynchmob sind es nur so wenige Momente, wie vom Sommermärchen zu Pegida. Nicht nur die Amerikaner können das, wir haben unseren eigenen Faschismus in Europa auch super drauf, ach was: Besser! Alles viel besser! Denen werden wir es zeigen! Spannungen steigen zwischen Liebes- und Geschwisterpaaren, einsame Exzesse der Verzweiflung und Gruppenexzesse der Gewalt wechseln sich ab. Eine Mutter will ihr Kind aus Paranoia beschützen, schließt es in einem Kabuff ein und verliert den Schlüssel. Die Kinder! Oh Gott, wir müssen die Kinder schützen!

Noé hatte schon immer eine moralistische Haltung in seinen Filmen, die voll sind von verpassten Chancen, gebrochenen Versprechen und tödlicher Nachlässigkeit. In CLIMAX geht es weniger um Drogen, Tanz und Jugend, als um die europäischen Gesellschaften nach den 90er Jahren, die mit einer großen Party begannen, bis diese blöden Dinge geschahen, die alles verdarben. Rostock, Hoyerswerda, der Aufstieg des Front National, 9/11, Rassenhass und religiöser Wahn, Brexit, Finanzkrise, Austeritätspolitik, der ganze Müll. Das taucht alles, kaum verklausuliert, in rasant-brutalen Szenen auf, wenig subtil, aber mit gewaltigem Einsatz. Aber es geht auch um das Leben an sich, das allzu oft ähnlich verläuft: Irgendwer spuckt dir in die Suppe deiner Träume, und Bitterkeit und Wut breiten sich aus. Nur der bärige Discjockey bleibt gelassen, nimmt den traurigen kleinen Schwulen in den Arm und die beiden gehen schlafen. Es ist alles gut, wir sind zuhause.

Tom Dorow

Details

Frankreich 2018, 90 min
Sprache: Französisch, Englisch
Genre: Tanzfilm, Horror
Regie: Gaspar Noé
Drehbuch: Gaspar Noé
Kamera: Benoît Debie
Schnitt: Denis Bedlow
Verleih: Alamode Filmverleih
Darsteller: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Souheila Yacoub, Thea Carla Schott
FSK: 16
Kinostart: 06.12.2018

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