Neue Notiz
Liebe, D-Mark und Tod
Von der Arabeske zum Rap
Regisseur Cem Kaya Dokumentarfilm über die Musikproduktion türkischer Deutscher von den 1950er Jahren bis heute ist ein rasanter Ritt durch mehr als ein halbes Jahrhundert türkisch-deutscher Geschichte.
„Sie liegt in meinen Armen / Ich kann es nicht ertragen / Es war ihr allerletzes Wort / ‚Ich liebe dich‘, dann ging sie fort“: An diese Zeilen werden sich Viele erinnern, die in den 2000ern in Deutschland Radio gehört und Musikfernsehen geschaut haben (vor allem jene, die damals Teenagermädchen waren). Sänger Muhabbet landet 2006 mit der Ballade „Sie liegt in meinen Armen“ als erster deutschtürkischer Sänger einen Mainstream-Hit. Was er selbst lange nicht weiß: Seit vielen Jahrzenten gibt es damals in Deutschland bereits eine vielfältige Szene türkischer und türkisch-deutscher Musik. Von ihr erzählt der Dokumentarfilm LIEBE, D-MARK UND TOD (Aşk, Mark ve Ölüm) von Regisseur Cem Kaya.
So um die 12 Mark hat sie gekostet, eine Kassette mit türkischer Musik, aufgenommen in Deutschland, genauer: in Köln. Dort produzierte das Label Türküola die Musik hunderter Künstler*innen – und ist zeitweise das umsatzstärkste Indie-Label des Landes. Doch da die Songs nur auf Kassette erscheinen, nicht offiziell lizenziert sind und auch nicht über die üblichen Wege vertrieben werden, sondern in türkischen Märkten und Shops an die Hörer*in gebracht werden, bekommt der „kartoffelige“ Teil des Landes davon kaum etwas mit. Bedauerlich, denn die Geschichte jener Musik ist auch die Geschichte der Bundesrepublik, die ihren Wohlstand auf dem Rücken von Gastarbeiter*innen aus ganz Europa errichtet hat. Ihnen verspricht Deutschland in den 50er Jahren einen sicheren Weg aus der Armut. In vielen türkischen Liedern dieser Zeit hört man Wehmut und Trennungsschmerz, die Texte beschreiben den Abschied vom Mutterland und die Zugreise ins Unbekannte. Yüksel Özkasap etwa, die „Nachtigall von Köln“, wird mit ihren Gurbet Türküleri („türkische Lieder aus der Fremde“) eine Zeitlang zur Stimme aller Expats – und dank der heimgebrachten Türküola-Kassetten auch in der Türkei zum Star.
Das türkische Leben in Deutschland war geprägt von Hungerlöhnen, schlechten Arbeitsbedingungen sowie Rassismus und zunehmender Gewalt. Das Fehlen kultureller Angebote und die Isolation von der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft machen das Dasein hier eintönig und einsam. Während die Arbeiter*innen im Alltag alles über sich ergehen lassen müssen, findet ihr Protest in der Musik Ausdruck – besonders in den 70ern, als türkische Arbeiter*innen nach Massenentlassungen erstmals streiken und für gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu kämpfen beginnen. Zusehends werden dabei Sprachen und Genres vermischt: Asik Metin Türköz etwa verarbeitet in „Guten Morgen Mayistero“ (1979) halb auf Deutsch, halb auf Türkisch den Arbeitsalltag in Deutschland und vereint traditionelle arabeske Klänge mit moderner Rockmusik.
„Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen an“, so bringt Liedermacher Cem Karaca das Unrecht, das den türkischen Menschen in Deutschland geschah, auf den Punkt: „Ihr wollt nicht unsere Kultur, nicht mit uns sein / Ihr wollt uns nur als Fremde sehen.“ Während er damit zumindest mal bei Biolek auftreten kann, findet die Musik seiner Zeitgenoss*innen sonst kaum in den deutschen Medien statt: Das sei dem deutschen Publikum nicht zu vermitteln, heißt es. Auch Veranstaltungsorte gibt es, trotz immenser Nachfrage, kaum – die wenigen Veranstalter, die sich auf die türkisch-deutsche Kultur spezialisieren, haben keine Probleme damit, Konzerthallen zu füllen. Die großen Hochzeiten, die in dieser Zeit zum Trend werden, sind oft Konzerte mit echten Stars. Ein wichtiger Treffpunkt der Szene war der Türkische Bazaar in Berlin: Da wegen der Mauer die S-Bahn nicht fuhr, wurde der Bahnhof Bülowstraße zur Einkaufsmeile und zum Veranstaltungsort – heute ist dieser faszinierende Ort wie weggewischt.
Die Geschichte aber lässt sich nicht so einfach wegwischen. LIEBE, D-MARK UND TOD stellt Profimusiker*innen ebenso vor wie Hobbykünstler*innen, Sammler*innen und andere Zeitzeug*innen. Spannende Interviews und wertvolles Archivmaterial schlagen eine Verbindung von der wehmütigen Arabesque der ersten Generation türkischer Arbeitsmigrant*innen bis hin zum bissigen, stolzen Rap von Künstler*innen wie Ebow oder Pashanim, die hier geboren sind und sich von niemandem vertreiben lassen. Der Film ist ein rasanter Ritt durch mehr als ein halbes Jahrhundert türkisch-deutscher Geschichte. „Hätte ich gewusst, dass so viele türkische Musiker, Gurbetci, Menschen, die hier gelebt haben, so viel produziert und so viel Musik gemacht haben – das hätte meiner Identität [sehr] geholfen“, sagt Muhabbet im Film. Heute kennt er diese Tradition und ist stolz, ein Teil von ihr zu sein. Und den Almans kann LIEBE, D-MARK UND TOD einiges über ihre eigene Geschichte beibringen, an das sie sich erinnern sollten, wenn sie das nächste Mal jemanden von „Integrationswilligkeit“ oder „Parallelgesellschaft“ faseln hören. Wer danach noch tiefer in das Thema einsteigen möchte, kann bei dem Projekt Songs of Gastarbeiter fündig werden: Hier haben der Schriftsteller Imran Ayata und der Regisseur und Musiker Bülent Kullukcu auf bisher zwei Alben unter anderem Lieder türkischstämmiger Musiker*innen zusammengetragen.
Originaltitel: Ask, Mark ve Ölüm
Deutschland 2022, 96 min
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Cem Kaya
Drehbuch: Cem Kaya, Mehmet Akif Büyükatalay
Kamera: Cem Kaya, Mahmoud Belakhel, Julius Dommer, Christian Kochmann
Schnitt: Cem Kaya
Verleih: rapid eye movies
FSK: 12
Kinostart: 29.09.2022
Website
IMDB
Vorführungen
ALLE ANGABEN OHNE GEWÄHR.
Die Inhalte dieser Webseite dürfen nicht gehandelt oder weitergegeben werden. Jede Vervielfältigung, Veröffentlichung oder andere Nutzung dieser Inhalte ist verboten, soweit die INDIEKINO BERLIN UG (haftungsbeschränkt) nicht ausdrücklich schriftlich ihr Einverständnis erklärt hat.