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Anhell69

Geister und Überlebende

ANHELL69 erzählt von einem Film, der nie entstand, von jungen, schönen, queeren Menschen aus Medellín, von einem Land und einer Generation, die keinen Frieden kennen. Goldene Taube des Dokumentarfilmfestivals DOK Leipzig 2022.

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„Wie würde die Zukunft eines Landes aussehen, das nie Frieden kannte?“, fragt Filmemacher Theo Montoya, während er sich im Sarg liegend im Leichenwagen durch Medellín fahren lässt, die zweitgrößte Stadt Kolumbiens. Am Steuer des Leichenwagens sitzt Víctor Gaviria, selbst Filmemacher und der erste kolumbianische Regisseur, der beim Filmfestival Cannes 1990 einen Film vorstellte. Der Titel: RODRIGO D. NO FUTURO.

Aus dem Sarg heraus beginnt Theo Montoya zu erzählen, wie er 2016 seinen ersten Spielfilm plante, der aber nie gedreht wurde. Auf den Casting-Tapes sehen wir Montoyas Freunde, die die Rollen in dem B-Movie besetzen sollten. Junge, schöne, queere Menschen aus Medellín. Sie lesen aber keine Drehbuchskripte vor, sondern erzählen von ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart, ihren Zukunftsträumen. Der Titel ANHELL69 ein Wort- und Lautgebilde aus Angél, spanisch für Engel und Hell, englisch für Hölle, ist auch der Instagram-Name von Cami, der die Hauptrolle spielen soll, aber an einer Überdosis stirbt, noch bevor er von seiner Besetzung erfährt.

Montoya dreht trotzdem einen Film. Statt eines B-Movies über Geister und ihre spektrophilen Lover wird ANHELL69 aber zur poetischen Meditation über dieses Land und über seine Generation, die keinen Frieden kennen. Es ist die Generation nach Pablo Escobar, dem Drogen- und Schattenkönig, der mit Gewalt und Morden das Land mitlenkte, bis er Anfang der 1990er starb. Jenseits der Grenzen erfuhr Escobar in Streaming-Serien und True-Crime-Formaten in den letzten Jahren fast wohlwollende Aufmerksamkeit, die einer wie er nicht verdient. Es ist auch die Generation nach dem Friedensschluss mit der FARC, den Guerillakriegern, die das Land Jahrzehnte mit Gewalt aus dem Dschungel regierten. Eine Generation, die ihre Väter nicht kennt, weil sie für oder gegen diese Kartelle arbeiteten und verschwanden. Ein Land voller Geister und Überlebender.

Montoya interviewt die Freunde, die überlebten, die nicht an einer Überdosis, durch Suizid oder Waffengewalt starben. Er imaginiert Szenen aus dem Spielfilm, der nicht existiert und dokumentiert was seither um ihn herum passiert. Die Übernahme der rechtskonservativen Regierung Iván Duques 2018, die es queeren und armen Menschen wieder schwerer machte in diesem Land zu überleben. Die Proteste gegen diese Politik in den Jahren 2019 bis 2021. Er erzählt aber auch von Träumen, Begehren, von wilden Partys, von Liebe und immer wieder vom Tod, der, wie einer von Montoyas Freunde es ausdrückt, selbst zur Freundin an ihrer Seite geworden ist. Ein hochpolitischer Blick auf dieses Land und die es beherrschende Gewalt, die keine Zukunft zuzulassen scheint, aber auch auf die Hoffnung, die sich in der Gemeinschaft bewahrt. ANHELL69 erhielt 2022 die Goldene Taube des Dokumentarfilmfestivals DOK Leipzig.

Clarissa Lempp

Details

Kolumbien/ Rumänien/ Frankreich/ Deutschland 2022, 72 min
Genre: Essayistischer Film, Film übers Filmemachen
Regie: Theo Montoya
Drehbuch: Theo Montoya
Kamera: Theo Montoya
Schnitt: Matthieu Taponier, Delia Oniga, Theo Montoya
Musik: Vlad Feneșan, Marius Leftărache
Verleih: Edition Salzgeber
Darsteller: Alejandro Hincapié, Camilo Machado, Alejandro Mendigaña, Julián David Moncada, Camilo Najar, Juan Esteban Pérez, Sharllot Zodoma, Víctor Gaviria, Theo Montoya
FSK: 16
Kinostart: 28.09.2023

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