Neue Notiz
Am Sonntag bist du tot
Ein irischer Regisseur rechnet ab
Bereits in der ersten Szene offenbart ein Anwohner der Stadt irischen Stadt Sligo Pfarrer James, dass er ihn in einer Woche umbringen wird, stellvertretend für einen anderen Priester, von dem er als Kind missbraucht wurde. Nach dieser Ankündigung sind für den Zuschauer alle Einwohner suspekt und ihr erratisches, bizarr eigenwilliges Verhalten verdächtig. Ausnahmslos jeder von ihnen würde einen glaubhaften Mörder abgeben
In THE GUARD, dem ersten Spielfilm von John Michael McDonagh, spielte Brendan Gleeson den ruppigen Dorfpolizisten Gerry Boyle, der sich regelmäßig Prostituierte bestellt, Drogen nimmt, Opfer von Gewaltverbrechen beklaut und einen Waffenfund an die ursprünglichen Besitzer, die IRA, weiterreicht. Als er gezwungen ist, in einem Drogenfall mit dem adretten afro-amerikanischen FBI-Vertreter Wendell Everett (Don Cheadle) zusammenzuarbeiten, zeigt er sich von seiner feindseligsten Seite. Als Everett den versammelten Polizisten in einer großen Show das Trio der Verdächtigen präsentiert, meldet sich Boyle und fragt „Sorry Sir, ich dachte, Drogendealer wären alle schwarz?“. Auf die Frage, ob er schon einmal in den USA war, antwortet er toternst: „Ja, in Disneyland.“ Erst als er zu seinem Kollegen nach dem Frühsport beim Frühstück (Boyle: Full English Breakfast, Everett: ein Croissant) sagt, „Ich dachte, Schwarze können nicht schwimmen?“ zeichnet sich langsam ein versöhnlicherer Ton ab. Natürlich arbeiten die Beiden am Ende zusammen gegen alle, denn Boyle ist zwar verkommen, aber korrupt ist er nicht.
In AM SONNTAG BIST DU TOT (CALVARY) arbeitet McDonagh seine Themen und Motive weiter aus. Aus der One-Man-Show Gleesons wird ein Ensemble, in dem alle Charaktere ein sehr eigensinniges und skurriles Eigenleben entwickeln, die Dialoge schrauben sich in immer bizarrere Windungen vor und der vornehmlich lustige schwarze Humor des Vorgängers nimmt Züge echter Düsternis und eines echten Anliegens an. Brendan Gleeson als Pfarrer James Lavelle ist wieder ein Solitär im Kampf gegen das Böse und die Idiotie, ein ehemaliger Alkoholiker mit einem strengen Gerechtigkeitssinn und einer beißenden Zunge. Was für den Guard sein Dienstanorak war, ist für Gleeson die anachronistische schwarze Soutane, mit der er wie Zorro im Küstenwind über den Strand stapft. McDonagh selbst hat die Soutane mit der Rüstung eines Samurai verglichen. Und wie die Samurai wird auch Gleeson beim einfachen Volk als Vertreter einer räuberischen Klasse gesehen, dem kaum verhohlene Verachtung an jeder Ecke entgegen schlägt. Die große Zeit der katholischen Kirche ist ganz offensichtlich vorbei. Einmal zitiert der schwerreiche, depressive und von seiner Frau verlassene Landbesitzer Michael den Pfarrer auf sein Anwesen. Er habe ein Angebot. Warum ihn das interessieren sollte, fragt James. Darauf Michael: „Das wäre das erste Mal, das die katholische Kirche nicht an einem Angebot interessiert wäre!“ Ein anderes Mal trifft Lavelle auf ein kleines Mädchen und beginnt eine freundliche Unterhaltung. Als der Vater der Kleinen seine Tochter mit dem Pfarrer sieht, wird er nahezu hysterisch: „Ins Auto, sofort!“
Das ist nur im ersten Moment komisch. Durch den ganzen Film vibriert die schwere Erschütterung der irischen Gesellschaft durch den Missbrauch, den katholische Priester und Einrichtungen jahrzehntelang erst verübt und dann verschleiert haben. In AM SONNTAG BIST DU TOT sind eigentlich alle traumatisiert und aggressiv, vom zynischen Arzt Dr. Frank Harte, der seine Zigarette in Organresten ausdrückt, über den afrikanischen Flüchtling Simon bis hin zum jungen Milo, der Pfarrer James erklärt, dass er sich freiwillig zur Armee melden möchte, da er so viel Hass mit sich herumtrage, was ihn sicher für den Beruf besonders qualifiziere. Und einer der Mitbürger möchte, quasi als therapeutische Maßnahme, den Pfarrer umbringen. AM SONNTAG BIST DU TOT, der im englischen Original CALVARY (Kalvarienberg, der Berg auf dem Jesus gekreuzigt wurde) heißt, ist die Chronik eines angekündigten Todes. Bereits in der ersten Szene offenbart ein Anwohner der Stadt James, dass er ihn in einer Woche umbringen wird, stellvertretend für einen anderen Priester, von dem er als Kind missbraucht wurde. Nach dieser Ankündigung sind für den Zuschauer alle Einwohner suspekt und ihr erratisches, bizarr eigenwilliges Verhalten verdächtig. Ausnahmslos jeder von ihnen würde einen glaubhaften Mörder abgeben. James dagegen, der die Stimmen seiner Schäfchen kennt, weiß, wer ihn umbringen wird.
AM SONNTAG BIST DU TOT als schwarze Komödie zu bezeichnen, würde in die Irre führen. AM SONNTAG BIST DU TOT hat fantastisch komische Szenen und einige der skurrilsten Dialoge, die in diesem Jahr im Kino zu hören sein werden. Aber zugleich ist AM SONNTAG BIST DU TOT ein wütender Film, der sich nicht bis ins letzte Detail erschließt, ein Film, der ahnen lässt, dass hier jemand leidenschaftlich mit seiner Gesellschaft abrechnet, mit der Verlogenheit, dem Alltags-Rassismus, der Kirche, dem bequemen Kirchenhass, dem Zynismus, der Geldgier, der Zersplitterung. Ein Film, der für Versöhnung plädiert aber vielleicht selbst nicht so recht daran glaubt. Am Ende sieht man die Orte der Handlung noch einmal, das Café in Dublin, das Meer, den abweisend quadratischen Berg Benbulben, ohne Menschen. Sie wirken wie befreit.
Erfreulicherweise für die Freunde des bösen Humors ist McDonagh mit seiner Generalabrechnung noch nicht fertig. Ein Film mit dem Titel WAR ON EVERYONE, in dem Gleeson einen aggressiven Ermittler im Rollstuhl spielen wird, ist bereits in Planung.
Originaltitel: Calvary
Irland/Großbritannien 2014, 100 min
Sprache: Englisch
Genre: Drama, Komödie, Krimi
Regie: John Michael McDonagh
Drehbuch: John Michael McDonagh
Kamera: Larry Smith
Schnitt: Chris Gill
Musik: Patrick Cassidy
Verleih: Ascot Elite
Darsteller: Dylan Moran, Kelly Reilly, Marie-Josée Croze, Brendan Gleeson, Chris O'Dowd, Aidan Gillen, David Wilmot, Domhnall Gleeson
FSK: 16
Kinostart: 23.10.2014
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