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Alle die du bist

Was ist, wenn der Mensch, den du am meisten liebst, auf einmal ein Fremder in deinen Augen ist? Nadine, eine aufopferungsvolle Fabrikarbeiterin, versucht ihre tiefsten Gefühle für ihren Mann wieder aufleben zu lassen. Doch wen hat sie einst in ihm gesehen, den sie nun nicht mehr finden kann?

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(Festivalkritik)
In seinem zweiten Spielfilm zeichnet Michael Fetter Nathansky das Psychogramm einer Beziehung, die sich in Auflösung befindet. Der Film beginnt mit einer Szene, die möglicherweise der letzte Strohhalm für Nadine (Aenne Schwarz) ist, aber vielleicht fand der endgültige Bruch schon vorher statt, es kommt insgesamt so einiges zusammen. Vielleicht besteht aber auch doch noch Hoffnung? Nadines Mann Paul jedenfalls hat sich bei einem neuen Job vorgestellt und in einer Panikattacke im Lager des neuen Arbeitgebers verschanzt. Nadine klettert über das Tor, beruhigt Paul und holt ihn raus. Liebevoll und kenntnisreich, sichtbar nicht zum ersten Mal. Sie spricht zu ihm wie zu einem Kind – und der Paul im Film wird in dieser Szene tatsächlich von einem Kind gespielt. In anderen Szenen ist er ein junger, unbeschwerter Mann, dann wieder eine Mutterfigur – je nachdem welche Rolle er für Nadine verkörpert, in welchem Modus sich die Beziehung gerade befindet.

Mit dieser originellen, überhöhten Konstruktion sagt der ansonsten sehr naturalistisch inszenierte Film weniger etwas über Paul (meist Carlo Ljubek) aus als über die verschiedenen Verhältnisse, die Nadine zu Paul hat, über das Schillern einer Beziehung, das allein im Kopf einer Person entsteht. Paul macht immer noch die gleichen Witze wie zu Beginn der Beziehung, ist immer noch der gleiche nette, liebevolle, etwas theatralische Typ. Aber Nadine lacht nicht mehr sondern ist genervt und von ihrer Genervtheit selbst mehr als schockiert. Hat sie aufgehört, Paul zu lieben, und wenn ja, bleibt das jetzt so?

ALLE DIE DU BIST erzählt auf zwei Zeitebenen. In der einen, der Gegenwart, löst sich die Beziehung auf. Nadine unternimmt Gegenmaßnahmen, spricht mit Paul, hält dieweil die kleine Familie zusammen und versucht in ihrem Job als Betriebsrätin, die Abwicklung ihrer Mechatroniker-Abteilung in der Kohleindustrie zu verhindern. Der Zerfall der Beziehung hat nicht allein, vielleicht nicht einmal hauptsächlich, mit den beiden Hauptbeteiligten zu tun, sondern wird auch als Ergebnis der Umstände gezeichnet, als Kollateralschaden der pausenlosen Verantwortung, die auf Nadine lastet. In komplex verwobenen Rückblenden erzählt der Film parallel dazu, wie Nadine und Paul sich kennengelernt haben. Damals war Nadine die Neue im Betrieb, frisch aus Ostdeutschland mit Kind nach Köln gezogen. Der Stress war nicht weniger, aber Nadine hat Paul damals eher als Verbündeten gesehen denn als Bürde. In diesen Sequenzen ist Paul meist sein erwachsenes Selbst.

ALLE DIE DU BIST ist ein ambitionierter Film, der komplex erzählt, weil er der Komplexität von schwer benennbaren Zuständen gerecht werden will. Das holpert an einzelnen Stellen: Man kann den erzählerischen Umwegen erstaunlich gut folgen, aber es scheinen auch nicht alle zwingend nötig, das eher jugendliche Alter Ego und sein Einsatz in den Nadine-verliebt-sich-Szenen hat mich irritiert, und kann jemand Sara Fazilat bitte mal eine zarte Rolle geben? hier spielt sie einmal mehr die burschikose Freundin und wirkt von allen Personen am ausgedachtesten. Persönlich fand ich Pauls Schäkereien auch schon zu Beginn weder lustig noch sexy und habe deshalb das Entlieben besser nachvollziehen können als das Verlieben. Aber andere haben das anders empfunden und hoffen noch auf ein Happy End.

Aenne Schwarz und Carlo Ljubek schaffen es, eigenwillige, dreidimensionale Figuren zu spielen. Es gibt schmerzhaft glaubhafte Momente. Die weitere Umgebung von Köln mit ihren Silos und Autobahnen taucht fernab jeder Kumpel-Romantik auf. Den nächsten Film von Michael Fetter Nathansky würde ich mir ansehen.

Hendrike Bake

Details

Originaltitel: Every You Every Me
Deutschland/Spanien 2024, 108 min
Sprache: Deutsch
Genre: Drama
Regie: Michael Fetter Nathansky
Drehbuch: Michael Fetter Nathansky
Kamera: Jan Mayntz
Schnitt: Andrea Mertens
Musik: Gregor Keienburg, Ben Winkler
Verleih: Port-Au-Prince Pictures
Darsteller: Aenne Schwarz, Carlo Ljubek, Youness Aabbaz, Sara Fazilat, Naila Schuberth
Kinostart: 30.05.2024

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