Neue Notiz
A floresta de Jonathas – Im dunklen Grün
Der Unheimliche Urwald
Jonathas lebt mit seinen Eltern und Bruder Juliano im ländlichen Amazonasgebiet. Gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters möchte Jonathas mit einer ukrainische Touristin im Dschungel campen. Doch dann verirrt er sich im Urwald.
A FLORESTA DE JONATHAS beginnt an einem Ort des Übergangs, an der Grenze zwischen der Zivilisation und ihrem Außen: Gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder Juliano betreibt Jonathas einen kleinen Lebensmittelstand am Rand einer Straße, irgendwo im riesigen Amazonien. Der Dschungel ist nah, aber scheint auf den ersten Blick gebändigt, nur noch dazu gut, um gelegentlich ein paar Touristen anzulocken. Die verhelfen Jonathas’ Familie zu ihrem Lebensunterhalt - und wenn sie weiblich, jung und hübsch sind, verhelfen sie außerdem Juliano zu one night stands. Der für so etwas zu schüchterne Jonathas dagegen scheint sich weg zu wünschen von diesem gottverlassenen Ort der ewigen Routine, der drückenden Armut. Eines Tages tauchen in der Einöde zwei Mädchen, die Ukrainerin Milly und die Einheimische Kedassere, mit ihrem Jeep auf und nehmen die Brüder auf einen Camping-Trip mit - hinein in den Dschungel, der gleichzeitig erotisches Versprechen und Freiheitsraum ist. Zunächst scheint sich dort eine Liebesgeschichte zwischen Milly und Jonathas anzubahnen, doch dann beschließt der junge Mann plötzlich, in den Urwald hinaus zu wandern. In einen Urwald, der nicht einfach nur unwegsam und gefährlich ist, sondern der diesen vorher noch recht kohärent erzählten Film regelrecht zu zersetzen scheint.
Eigentlich beginnen die Irritationen schon früher, vielleicht schon mit der ersten Einstellung, der rätselhaften Großaufnahme eines direkt in die Kamera starrenden Mannes. Der Dschungel - mitsamt seiner ursprünglichen Bewohner, der indigenen Bevölkerung, die immer wieder kleine Auftritte hat, oft eher am Bildrand, als im Zentrum - ist fast so etwas wie ein Virus, der den Film von Anfang an infiziert. Jonathas und seine Familie mögen versuchen, das Unheimliche des Urwalds von sich weg zu drücken, aber von Anfang an bleibt es präsent, auf der Tonspur sowieso, als fast durchgängiges Hintergrundrauschen, aber auch in den Geschichten, die sich die Figuren gegenseitig erzählen. Bis der Film sich schließlich selbst in eine solche Geschichte verwandelt: A FLORESTA DE JONATHAS basiert auf dem realen Fall eines jungen Mannes, der im Jahr 2008 im Urwald verloren gegangen war.
In mancher Hinsicht erinnert der Debütfilm des jungen Regisseurs Sergio Andrade an die Dschungelfilme Apichatpong Weerasethakuls (TROPICAL MALADY, UNCLE BOONMEE ERINNERT SICH AN SEINE FRÜHEREN LEBEN). Wie in vielen Werken des Thailänders gibt es einen deutlichen Bruch in der Mitte des Films, der plötzlich seine eigenen Regeln über den Haufen wirft und noch einmal komplett neu anzusetzen scheint. Und wie bei Weerasethakul ist in Andrades Erstling der Dschungel nicht einfach nur eine Herausforderung, der sich die Menschen stellen müssen, wie auf einem überdimensionierten Abenteuerspielplatz, er ist er keine bloße Ansammlung exotischer Klischees und taugt auch nicht (das erfährt Jonathas am eigenen Leib) als touristische Attraktion. Eher ist der Dschungel ein Ort, in den man hineinfällt, ohne es zu wollen, der einem den Boden unten den Füßen wegzieht, ein Ort, in dem die Alltagswelt und das Alltagswissen, auch die Alltagszeit nicht mehr gelten - und der einem dafür Möglichkeiten der Wahrnehmung eröffnet, die man sich vorher in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Kurzum: Der Dschungel ist für Andrade wie für Weerasethakul ein Ort, der ähnlich funktioniert wie das Kino.
Dann doch wieder ganz eigen ist A FLORESTA DE JONATHAS, weil Andrade sich viel stärker als der stets etwas distanzierte Weerasethakul auf die Perspektive seiner Hauptfigur einlässt: Von Anfang an erleben wir die Welt mit dem jungen Mann, langweilen uns mit ihm am Straßenrand, verlieben uns mit ihm in die dynamische, eine ganz neue Lebendigkeit in seine Welt bringende Milly, gehen schließlich mit ihm im Dschungel verloren. Was auch heißt: Wir verlieren langsam unsere eigenen Konturen, unser eigenes Ich, das sich, gemeinsam mit der Kamera, in den Urwald davonmacht, sich in fiebrigen Fantasiebildern und hypnotischen Soundscapes auflöst.
Originaltitel: A floresta de Jonathas
BR 2012, 101 min
Genre: Drama
Regie: Sergio Andrade
Drehbuch: Sergio Andrade
Verleih: BILDKRAFT
Darsteller: David Almeida, Chico Diaz, Italo Castro
FSK: 12
Kinostart: 06.03.2014
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