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1917

Atemberaubende Kamera

Regisseur Sam Mendes und Kameramann Roger Deakins haben die Geschichte von zwei britischen Soldaten im ersten Weltkrieg, die durch das Niemandsland müssen, um eine wichtige Nachricht zu überbringen, in einem atemberaubenden Take gedreht.

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Der Oscar für die beste Kamera dürfte in diesem Jahr wieder an Roger Deakins gehen. Es hat seit Alfred Hitchcocks THE ROPE schon viele „One Take“-Filme gegeben, also Filme, die wirken als gäbe es in ihnen keinen Schnitt, zuletzt etwa den Holocaust-Film SON OF SAUL (2015) von László Nemes, den Berlin-Thriller VICTORIA (2015) von Sebastian Schipper oder das Schauspieler-Drama BIRDMAN (2014) von Alejandro Iñárritu. Aber das, was Regisseur Sam Mendes und Roger Deakins in 1917 zeigen, hat man so noch nie gesehen. 1917 ist schlichtweg atemberaubend.

1917 erzählt die Geschichte von zwei britischen Soldaten im ersten Weltkrieg, die sich durch das Niemandsland schlagen müssen, um eine wichtige Nachricht an das Kommando eines Bataillons zu überbringen, das am nächsten Morgen einen Angriff auf die offenbar im Rückzug befindlichen deutschen Stellungen plant. Die Deutschen haben sich aber nur zum Schein auf eine tiefer gelegene Stellung zurückgezogen, wo Verstärkung und gewaltige Artillerie das britische Bataillon erwarten – eine historisch verbürgte deutsche Militärstrategie, die auch bei den Rückzugsgefechten gegen die sowjetischen Armee im 2. Weltkrieg angewendet wurde. Sollten die Briten angreifen, wäre das Bataillon verloren. Einer der beiden Soldaten, Lance Corporal Blake (Dean-Charles Chapman, der in „Game of Thrones“ den naiven Teenager-König Tommen spielte), hat einen Bruder unter den 1.600 bedrohten Briten, deshalb hat das Oberkommando gerade ihn für den gefährlichen Einsatz ausgewählt. Der andere, Lance Corporal Schofield (George MacKay) ist zufällig in der Nähe, als der Auftrag erteilt wird.

1917 wirkt oft wie ein Horrorfilm. Das Terrain, durch das die beiden Männer schleichen, rennen und kriechen, ist ein einziger Alptraum aus Ratten, Ruinen, Bombenkratern, verwesenden Leichen und zerfetzten Körperteilen. Wenn etwas passiert, dann so plötzlich wie ein Jump-Scare im Horrorfilm: eine Explosion, ein Schuss, Schocks ohne Vorwarnung. Die Kamera, die stets bei den Soldaten bleibt, zieht einen in die Handlung hinein, lenkt die Aufmerksamkeit, rückt Details im Vorübergehen ins Bild, wiegt in prekärer Sicherheit, verweigert aber meist den Überblick und die Orientierung. Dem Film ist die minutiöse Planung der Szenen und Kamerabewegungen jederzeit anzusehen, aber sie überlagert nie die Handlung. Selbst in Szenen, die ungläubiges Staunen über die technische Finesse des Films hervorrufen, bleibt der Aufwand der Erzählung verpflichtet und verstärkt ihren Effekt. Wie Roger Deakins eine lange Sequenz gefilmt hat, die vor einem brennenden Haus beginnt, und dann zur Verfolgungsjagd durch eine von Leuchtgranaten erhellte, zerstörte Stadt wird, und schließlich von der Dämmerung des Morgens zum vollen Tageslicht übergeht, ist mir ein Rätsel. Wie schafft man es, so viele völlig unterschiedliche Lichtstimmungen ohne einen Schnitt in die Kamera zu bannen? Natürlich weist der Abspann ein gigantisches technisches Personal aus. Vermutlich war ein CGI-Team monatelang allein damit beschäftigt, die Schienen, auf denen sich die Kamera bewegt, aus dem Bild zu retouchieren. Aber wie schafft man den nahtlosen Übergang von offenbar mit der Steadycam gedrehten Szenen, also solchen, bei denen die Kamera mitsamt einem stabilisierenden Apparat getragen wird, zu solchen, die aussehen, als seien sie Dolly-Fahrten, bei denen die Kamera auf einen Wagen montiert ist? Ich werde nur selten zum totalen Technik-Junkie, aber 1917 hat mich tatsächlich fasziniert und unglaublich staunend auf der Sitzkante erwischt.

1917 ist ein Kriegsfilm, der Erfahrungen von Soldaten zeigen will. Es gibt durchaus heroisches Verhalten in diesem Film, das aber weder belohnt wird, noch aus irgendwelchen Idealen erwächst, und schon gar nicht national verklärt wird. Kriegsfilme stehen in Deutschland immer unter dem Verdacht der Gewaltverherrlichung, oft nicht zu Unrecht. Sam Mendes‘ Film ist da eher unverdächtig.

Tom Dorow

Details

Grossbritannien/USA 2019, 119 min
Sprache: Englisch, Deutsch, Französisch
Genre: Kriegsfilm, Drama, Historienfilm
Regie: Sam Mendes
Drehbuch: Sam Mendes, Krysty Wilson-Cairns
Kamera: Roger Deakins
Schnitt: Lee Smith
Musik: Thomas Newman
Verleih: Universal Pictures
Darsteller: Dean-Charles Chapman, George MacKay, Andrew Scott, Benedict Cumberbatch, Richard Madden
FSK: 12
Kinostart: 16.01.2020

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