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Wild

Liebe zum Wolf

Ania hat einen öden Job als IT-Administratorin in einer Werbeagentur. Dann sieht sie im Park vor der Wohnanlage, in der sie lebt, einen Wolf. Sie fängt das Tier, schließt es in einem Zimmer ihrer gesichtslosen Wohnung und kauft ihm Leckerli. Mit der Zeit wird die Beziehung zwischen Frau und Wolf immer intimer, wobei Ania nicht etwa den Wolf domestiziert, sondern selbst einen Prozess des Wild-Werdens durchläuft.

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Nicolette Krebitz‘ neuer Film WILD ist einer der mutigsten deutschen Filme der letzten Jahre, ein Film, der nach Tier und Freiheit stinkt und dabei oft unglaublich komisch ist. Ein Film, der alles liefert, was das Cineastenherz begehrt: noch nie gesehene Bilder, eine im wahrsten Sinne bissige Vision der Lebenswelt, tolle Darsteller, treffsichere Pointen. Der kommende Kultfilm einer Generation. Ein Film, der bleiben wird, den man noch im vierzig, fünfzig Jahren hervorkramen und sowohl als Beispiel für die filmische Verarbeitung der Gesellschaft in den 10er Jahren hernehmen wird, als auch für ein neues weibliches Kino, das Sehnsüchte und Träume so hemmungslos auslebt, wie es einst nur Männer in Western und Gangsterfilmen durften.

Mit WILD geht Nicolette Krebitz in die Vollen. Ania (Lilith Stangenberg) hat einen öden Job als IT-Administratorin in einer Werbeagentur. Wenn ihr Chef Boris mit irgendeinem Gegenstand nach der Glasscheibe wirft, mit der das Chefbüro von den Schreibtischen der Untergebenen getrennt ist, steht sie auf und geht zur Kaffeemaschine. Selbst dort kann sie ihren Kaffee nur gegen die Kollegen verteidigen, weil der ja für den Chef ist. Boris lobt sie für ihre Unsichtbarkeit: „Du hast mich nie gestört.“ Das versteht der selbst mit sich unzufriedene Boss als ein Kompliment. Mit schöner Selbstverständlichkeit wird Ania später auf seinen Schreibtisch scheißen.

Ania beginnt, ein Verhältnis zur frischen Luft zu bekommen wie ein Junkie zu seinem Stoff: Sie reißt jedes Fenster auf. Dann sieht sie im Park vor der Wohnanlage, in der sie lebt, einen Wolf. Ob das Tier nur eine Traumvision oder ein echtes Wildtier ist, das in der Stadt nach Futter sucht, bleibt zunächst unklar. Ania recherchiert, wie man Wölfe fängt, bastelt mit Hilfe von asiatischen Arbeiterinnen aus einer Textilfabrik, mit der ihre Agentur in irgendeiner Geschäftsverbindung steht, eine Falle, betäubt das Tier und schließt es in dem Zimmer ihrer gesichtslosen Wohnung ein, aus dem ihre Schwester gerade ausgezogen ist. Ania kauft dem Wolf Leckerli, teures Fleisch und so niedliche wie appetitliche Kaninchen und die Beziehung zwischen Frau und Wolf wird immer intimer, wobei Ania nicht etwa den Wolf domestiziert, sondern selbst einen Prozess des Wild-Werdens durchläuft.

Im Gegensatz zu anderen Tier-und-Wir-Filmen wie LIFE OF PI oder PLANET DER AFFEN ist der Wolf nicht aus Pixeln gebastelt oder im Motion-Capture-Verfahren eingefügt, sondern ein echter Wolf aus Fleisch und Blut. Krebitz hat mit dem ungarischen Tiertrainer Zoltan Horkai zusammen gearbeitet und den Film mit zwei Wölfen gedreht, die immer nur für kurze Zeit von ihrem Rudel getrennt wurden. Dass das nicht ungefährlich war, sieht man. Vor allem die ohnehin fantastische, stets mit großer Lässigkeit agierende Lilith Stangenberg riskiert hier einiges, und die reale Gefahr schreibt sich geradezu körperlich in den Film ein.

Krebitz sieht ihren Film als absolut optimistisches Werk: „Man soll sich an dem Film aufrichten. Ich wollte einen positiven Film, der einem vermittelt, dass man es schaffen kann.“ Das scheint sich aber eher auf ihre Arbeit als Filmemacherin zu beziehen, als auf den Befreiungsversuch ihrer Heldin. Die Frauenphantasie mag wild und sexy sein, am Ende führt sie in eine von Menschen gemachte Einöde, die auch nicht wilder wirkt als der Spielplatz in einer Neubausiedlung. Immerhin lächelt Ania. Etwas ist vollbracht, aber was eigentlich, außer einem großen „Fuck you all“? Aber vielleicht fängt damit ja auch erst alles an.

Tom Dorow

Details

Deutschland 2016, 97 min
Genre: Drama
Regie: Nicolette Krebitz
Drehbuch: Nicolette Krebitz
Kamera: Reinhold Vorschneider
Schnitt: Bettina Böhler
Verleih: NFP
Darsteller: Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Silke Bodenbender
FSK: 16
Kinostart: 14.04.2016

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