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Leviathan

In den Fängen des absolutistischen Staatmonsters

Regisseur Andrei Zvyagintsev hat mit LEVIATHAN eine unerbittliche Parabel auf das allmächtige absolutistische Staatsmonster und den vergeblichen Widerstand des Individuums erschaffen. Der Film erzählt die Geschichte des kleinen Automechanikers Nikolai, der verbissen gegen den korrupten Bürgermeister kämpft, der ihn zwangsenteignen und sich sein Grundstück an der Barentssee für einen Spottpreis unter den Nagel reißen will.

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Man kann Nikolai Sergejew (Alexej Serebrjakow) als rechtschaffenen Mann bezeichnen. Sein hageres Gesicht und die eingefallenen Augen lassen auf ein hartes Leben in der Bergbaustadt Kirowsk in der russischen Arktis schließen. Dort lebt der raubeinige Automechaniker mit seiner jüngeren Frau Lilia (Jelena Ljadowa) und Roma (Sergej Pochodajew), seinem pubertierenden Sohn aus erster Ehe auf einem eindrucksvollen Grundstück etwas außerhalb, das sich seit Generationen im Familienbesitz befindet. Der Blick auf die mächtige tiefblaue Barrentssee entschädigt für das bescheidene Leben im Haus, das Sergejew über Jahrzehnte hinweg mit seinen eigenen Händen aufgebaut hat. Seine kleine Werkstatt läuft jedoch schlecht, die besten Kunden sind örtliche Polizisten, die ihn immer wieder um Gefallen bei der Autoreparatur bitten und bestenfalls mit einer lächerlichen Flasche Wodka bezahlen.

Aber Nikolai hat gerade ganz andere Probleme, denn er hat sich mit dem schmierigen und korrupten Bürgermeister Wadim Shelewjat (Roman Madjanow) angelegt, der ihn zwangsenteignen und sich das Grundstück für einen Spottpreis unter den Nagel reißen will. Bereits zwei richterliche Beschlüsse haben Nikolais Einsprüche eiskalt abgelehnt, brutal prasseln die unverständlichen, aus bürokratisch-enervierenden Sprachsalven bestehenden Urteilsbegründungen auf ihn nieder. Aber Nikolai gibt nicht auf. Als der Bürgermeister mit den staatlichen Autoritäten im Rücken und dem Segen der Kirche zur endgültigen Machtdemonstration gegen den modernen Hiob ansetzt, bekommt dieser Hilfe von Dmitri (Wladimir Wdowitschenkow), einem Freund aus Armee-Zeiten. Der ist im fernen Moskau mittlerweile zum erfolgreichen Advokaten aufgestiegen und scheint zudem eine Menge einflussreicher Freunde zu haben. Dieser will nun für Gerechtigkeit sorgen, und tatsächlich scheint der Anwalt etwas gegen den Bürgermeister in der Hinterhand zu haben, um ihn unter Druck setzen zu können. Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als könne der staatlichen Willkür Einhalt geboten werden, als könne der aussichtslos scheinende Kampf gegen die Windmühlen vielleicht wirklich gewonnen werden.

Doch Regisseur Andrei Petrowitsch Swjaginzew hat mit LEVIATHAN eine unerbittliche Parabel auf das allmächtige absolutistische Staatsmonster und den vergeblichen Widerstand des Individuums erschaffen, die er konsequent zu Ende erzählt. Dabei fügt der Filmemacher starke und mystische Natur- und Landschaftsbilder, brillante Darsteller und einen wohltuenden schwarzhumorigen Fatalismus zu einem kunstvollen Gesellschafts- und Sittenbild zusammen. Seine selbstbewusste und ausschweifende Beschreibung, die immer wieder auch die Schicksale der Nebenfiguren aufnimmt und begleitet, steht in ihrem Ausmaß in der Tradition der großen russischen Erzähler des 19. Jahrhunderts. Die filmische Intensität, mit der Swjaginzew in aller Konsequenz erzählt, lässt wiederum an die kraftvollen Filme der New Hollywood-Generation denken oder das skandinavische Kino der vergangenen Jahrzehnte.

Dass der Film mit seiner Golden-Globe-Auszeichnung und einer Oscar-Nominierung zunehmend zum ultimativen Kommentar auf das gegenwärtige Russland unter Putin stilisiert wird, greift allerdings viel zu kurz. Nicht nur deshalb, weil sich der Regisseur die Inspiration für seine Geschichte bei Dreharbeiten in New York holte, als er vom verzweifelten Kampf eines Werkstattbesitzers aus Colorado erfuhr, der schließlich zur Vorlage für seinen Film werden sollte. Mit LEVIATHAN hat er ein virtuos klassisches und universelles Drama auf Staat, Politik, Kirche und Individuum erschaffen.
Dass sein Film, der zu 35 Prozent aus staatlichen Mitteln finanziert wurde und dies im Vorspann fast ein bisschen spöttisch vor sich herträgt, bei den gegenwärtigen russischen Politikern für großen Unmut sorgt, ist dennoch so amüsant wie bezeichnend. Es werde zu viel geflucht und viel zu viel gesoffen, heißt es da, was in diesem Zusammenhang ja wirklich nur als weitere Auszeichnung verstanden werden kann.

Jens Mayer

Details

Russland 2014, 140 min
Genre: Drama
Regie: Andrei Zvyagintsev
Drehbuch: Oleg Negin, Andrey Zvyagintsev
Kamera: Mikhail Krichman
Verleih: Wild Bunch Germany
Darsteller: Vladmir Vdovichenkov, Roman Madyanov, Elena Lyadova, Aleksey Serebryakov, Anna Ukolova
FSK: 12
Kinostart: 12.03.2015

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