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Die Lebenden reparieren

Organtransplantation im Film

Ein junger Mann erfährt bei einem Autounfall irreparable Hirnschäden. Eine Musikerin wartet auf ein Spenderherz. Die Geschichte einer Transplantation.

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Im Fall des Films DIE LEBENDEN REPARIEREN befinde ich mich in einer ungemütlichen Position, die mir klarmacht, wie privilegiert meine Perspektive auf Filme sonst ist. Als hauptsächlich heterosexueller weißer Cis-Mann kann ich gewöhnlich darauf verzichten, Repräsentation im Film zum Kern einer Betrachtung zu machen. Ich muss mir nicht allzu viele Gedanken darüber machen, ob mein Geschlecht hauptsächlich als hirnloser „love interest“ mit großen Titten gezeigt wird, oder ob Charaktere, mit denen ich mich identifizieren könnte, im Kino immer als erstes sterben oder als kichernde Köche porträtiert werden. Ich kann die Frage nach der Repräsentation beiseiteschieben und mich auf das wirkliche Wichtige konzentrieren: Narration und Form, das was Kunst an der Kunst ist, und wenn ich Lust habe, frage ich vielleicht noch nach der Bedeutung. Die privilegierte Perspektive hat Vorteile, weil sich allein aus Repräsentation keine Kunst stricken lässt, wie sich an jedem Staatskunst-Event und jedem Film, der aus nicht mehr als einer These oder einer Botschaft besteht, ablesen lässt. Vor allem aber sind Narration und Form komplexer als die Frage nach der Repräsentation. Aber ohne auf die Repräsentation zu schauen, werden sich weder Kunst noch Gesellschaft weiterentwickeln.

Andererseits lebe ich seit 13 Jahren mit einer transplantierten Niere, einer Lebendspende meines Vaters, die nun allerdings im Begriff ist zu versagen. Die Repräsentation von Organtransplantationen im Film ist eine höchst ungemütliche Angelegenheit. Der englischsprachige Wikipedia-Eintrag zum Thema (einen deutschsprachigen Eintrag zur Transplantation im Film gibt es nicht, aber es gibt auch kaum noch Organspenden in Deutschland) macht die Sache mit dem ersten Satz klar: „Organ transplantation is a common theme in science fiction and horror fiction.“ Horror und Sci-Fi sind die Genres, die das Bild von Organtransplantationen im Kino bestimmen, und zu weiten Teilen auch die öffentliche Wahrnehmung. Der US-Film COMA (1978) und die deutsche Produktion FLEISCH (1979) entwickelten die Standard-Plot-Elemente: Jemand kommt einer Verschwörung auf die Spur, die darin besteht, dass Menschen zum Zwecke der Profitmaximierung in riesigen geheimen Fabriken ausgeschlachtet werden. Einer der letzten Filme, der diese Geschichte variierte, ist ALLES WAS WIR GEBEN MUSSTEN (2010), nach einer Erzählung des Nobelpreisträgers Kazuo Ishiguro, in dem Menschen geklont werden, um später der Oberschicht als Organspender zu dienen. Egal welchen Artikel zum Thema man im Internet öffnet, irgendwo in den Kommentaren, und oft auch im Artikel selbst, wird auf diese Motive angespielt, wird die Angst ausgedrückt, dass dies mit Patienten geschehen könnte, dass uns diese Verschwörung verschwiegen wird usw. Die Skandale um Manipulationen von Patientenakten, bei denen Ärzte in einzelnen Kliniken ihre Patienten kranker schrieben als sie waren, um ihnen einen günstigeren Platz auf der Eurotransplant-Warteliste zu verschaffen, wurden sofort in diesem Kontext interpretiert: Dahinter konnte nur ein konkretes ökonomisches Interesse stehen, auch wenn das nicht nachgewiesen werden konnte. Folglich hat sich die Zahl der Organspenden in Deutschland seit 2012 halbiert, die Wartezeit auf ein Spenderorgan verdoppelt. Sie kann heute 12-15 Jahre für eine Niere betragen.

DIE LEBENDEN REPARIEREN weicht von der Splatter-Paranoia-Erzählung ab. Die französische Regisseurin Katell Quillévéré (SUZANNE) zeigt das Netzwerk, das Anteil an einer Transplantation hat. Ein junger Surfer hat einen schweren Autounfall. Das Team der Intensivmedizin informiert die Transplantationsambulanz. Die Eltern, die mit Angst und Trauer kämpfen, müssen schnell eine Entscheidung treffen. Das Team von Eurotransplant vermittelt die Organe in einem kleinen, hektischen Büro in Brüssel. Eine herzkranke ehemalige Musikerin ruft ihre Familie zusammen, und zieht in eine Wohnung, die näher an der Klinik liegt, ohne zu wissen, ob sie ein Spenderherz bekommt. Ihrer Ärztin erklärt sie, dass sie darüber nachdenkt, vielleicht auch zu verzichten und den „natürlichen“ Tod zu akzeptieren.

Quillévéré inszeniert atmosphärisch dicht. Die Surfszenen am Anfang, sind kurz vor Sonnenaufgang gefilmt, im kalten Wasser von Le Havre. Hier gibt es keinen sonnendurchfluteten Glamour-Sport, sondern sich dunkel auftürmende Wellenberge, von denen jede ein Leben zerschmettern könnte. Während die Eltern trauern, machen die Mediziner pragmatisch ihren Job. Die neue Wohnung der Musikerin sieht aus, als wäre sie vor kurzem noch ein Bordell gewesen, der Sohn hat sie besorgt, und die schmierigen Lila- und Rottöne bilden einen fiesen Kontrast zu den existentiellen Fragen, mit denen sich die Figuren herumschlagen.

DIE LEBENDEN REPARIEREN ist ein taktvoller Film, der sich vor allem für den emotionalen Gehalt des Vorgangs interessiert, für die Trauer und Verzweiflung, für die Angst und das Zögern, für die Hoffnung und den Zweifel. Die ethischen und politischen Fragen um die Transplantationsmedizin werden eher implizit verhandelt. Quillévéré stellt die Transplantationspraxis an sich nicht in Frage, sie zeigt nur deren persönliche Auswirkungen. In Frankreich gilt die Widerspruchsregelung, das heißt, wer sich zu Lebzeiten nicht ausdrücklich gegen eine Transplantation ausgesprochen hat, kommt als Organspender in Betracht. Die Angehörigen werden gefragt, ob der Verstorbene sich zu Lebzeiten gegen eine Organentnahme ausgesprochen hat. Im Film sieht die tatsächliche Praxis allerdings nicht wesentlich anders aus als in Deutschland, wo die Zustimmungsregelung gilt: Die Eltern des jungen Mannes müssen der Organentnahme zustimmen, und entscheiden auch, welche Organe entnommen werden dürfen.

Ich fürchte, ich bin zu sehr betroffen, um zu entscheiden, ob DIE LEBENDEN REPARIEREN ein guter Film ist. Es ist der erste Spielfilm, der den tatsächlichen Ablauf einer Herz-Transplantation zeigt. Die emotionale Achterbahn ist mir lieber als noch ein Horrorthriller, bei dem jemand durch die Augen eines Massenmörders blickt.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Réparer les vivants
Frankreich/Belgien 2016, 104 min
Genre: Drama, Literaturverfilmung
Regie: Katell Quillévéré
Drehbuch: Gilles Taurand, Katell Quillévéré
Kamera: Tom Harari
Schnitt: Thomas Marchand
Musik: Alexandre Desplat
Verleih: Wild Bunch Germany
Darsteller: Alice Taglioni, Emmanuelle Seigner, Bouli Lanners, Tahar Rahim, Anne Dorval
FSK: 12
Kinostart: 07.12.2017

Website
IMDB

Vorführungen

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