Magazin für unabhängiges Kino

Interview

"Gesellschaftliche Verantwortung darf kein Kriterium sein"

Interview mit Bertrand Bonello zu NOCTURAMA

Bertrand Bonello ist seit seinem Debütspielfilm DER PORNOGRAF für kontroverse und seltsam halluzinatorische Filme bekannt. Zuletzt kam in Deutschland sein SAINT LAURENT (2014) in die Kinos. Mit NOCTURAMA hat Bonello einen kontroversen und todschicken Thriller über eine Gruppe junger Leute, die am gleichen Tag mehrere Bombenanschläge in Paris verüben, gedreht. Thomas Abeltshauser hat für INDIEKINO mit Bertrand Bonello über seinen neuen Film gesprochen.


INDIEKINO BERLIN: In Ihrem Film NOCTURAMA verhandeln Sie ein Terrorszenario in Frankreich. Entstanden ist das Projekt lange vor den tatsächlichen Anschlägen in Paris auf die Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo im Januar 2015 und auf den Club Bataclan im November 2015. Dort waren islamistische Terroristen verantwortlich, in Ihrem Film kommen die Attentäter jedoch aus der Mitte der französischen Gesellschaft, sie sind Wohlstandskinder. Warum haben Sie sich für dieses Täterprofil entschieden?


Bertrand Bonello: Als ich das Drehbuch 2010 schrieb, wollte ich damit eine angespannte, explosive Atmosphäre in Frankreich beschreiben, die ich spürte. Für mich hat der Film nichts mit dem ISIS-Terrorismus zu tun, im Grunde möchte ich gar nicht so sehr von Terrorismus sprechen. Für mich geht es eher um eine Art Utopie, eine Form von Aufstand oder Revolution, wie wir sie in der Geschichte Frankreichs immer wieder erleben. Es geht um eine Generation, die verzweifelt auf der Suche nach einer Alternative ist, die eine andere Gesellschaft will. Es ist natürlich verständlich, dass der Film nach den Ereignissen von 2015 nun damit in Zusammenhang gebracht wird. Für mich handelt der Film von unserer Gegenwart, aber es geht nicht um das, was wir in den Nachrichten sehen.

Haben diese Vergleiche Ihrem Film geschadet? Es gab Gerüchte, der Film sei letztes Jahr von Cannes abgelehnt worden, weil er zu nah an den realen Ereignissen war.

Ich kann nicht für das Festival in Cannes und über dessen Beweggründe sprechen, aber der Film lief dann im Herbst in Toronto und San Sebastián. Und die Reaktionen der Presse zum Filmstart in Frankreich waren sehr positiv. Die Debatte in den sozialen Medien war extrem aufgeheizt. Das Interessante dabei war, dass die User dort weniger über den Film selbst geschrieben haben, als über sich selbst und ihr Verhältnis zur Welt. Ich glaube auch nicht, dass es eine Zensur gibt. Allein die Tatsache, dass dieser Film existiert, ist doch der beste Beweis, dass die Kunst frei ist. Und vor allem im Filmbereich gibt es doch in vielen Ländern Europas Schutz und Unterstützung für unabhängiges Kino, das von Themen handelt, die im Mainstream nicht vorkommen.

Glauben Sie, die französische Gesellschaft ist bereit für diese Art der Auseinandersetzung?

Wir hatten eigentlich nur Probleme mit Leuten, die den Film gar nicht gesehen hatten und nur irgendetwas von Bombenanschlägen hörten und den Film dann sofort mit ISIS in Verbindung gebracht haben. Und damit hat er einfach nichts zu tun.

Die Idee, durch Gewalt bestehende Machtverhältnisse zu verändern, besteht schon so lange wie es Regierungen gibt.

Ihr Film kritisiert den Kapitalismus und wie er die Ideale der französischen Jugend verrät...

Das kann man so sehen, aber ich mache keinen Film, um eine klare Botschaft zu vermitteln. Der erste Teil des Films ist sehr simpel, er zeigt, wie diese Jugendlichen alle ihre eigene Vision haben, die sie antreibt und die zu diesen Attentaten führt. Der Film brauchte dann im zweiten Teil etwas Komplexeres, eine Ambiguität, die auch die Vieldeutigkeit unserer Welt widerspiegelt. Ich wollte keinen Messagefilm machen, sondern etwas über uns und unsere Gegenwart erzählen.

Der Film ist aus der Perspektive der Jugendlichen erzählt, aber Sie präsentieren sie dabei sehr distanziert, der Zuschauer erfährt etwa nicht, warum sie so handeln. Dabei zeigen Sie auch, dass eine Revolution nicht aus dem herrschenden Gesellschaftssystem heraus entstehen kann, weil es am Ende zu verführerisch und unentrinnbar ist. Diese Jugendlichen scheinen keine Chance zu haben gegen die Staatsgewalt.

Ich habe mich für die Struktur einer Tragödie entschieden, in der das Schicksal stärker ist als die Utopie. Es gibt keinen anderen Ausweg aus dieser Situation, die Staatsmacht reagiert mit aller Härte. Ich hätte dabei natürlich mehr Erklärungen geben können, oder zeigen, wie sich die Elitetruppe auf den Einsatz vorbereitet. Aber ich wollte immer bei den Jugendlichen bleiben. Aus Sicht der Polizei, für die das achtstöckige Kaufhaus sehr unübersichtlich ist, die nicht weiß, wie viele Personen sich dort aufhalten, welche Waffen sie besitzen, ist es nur logisch, den Einsatz möglichst effizient und mit minimalem Risiko zu Ende zu bringen. Das mag aus Sicht der Jugendlichen brutal wirken, aber der Film gibt dazu keine Wertung ab. Also: Der Film hat eine Perspektive, aber er nimmt keine Position ein, er hat keine Botschaft. Ich bin kein Politiker. Meine Verantwortung als Regisseur ist, den bestmöglichen Film zu machen. Gesellschaftliche Verantwortung darf kein Kriterium sein, sonst macht man ein Manifest und keinen Film.

Der Titel suggeriert eine Verbindung zu „Glamorama“, der Satire von Bret Easton Ellis über die amerikanische Celebrity- und Konsumgesellschaft der Neunziger Jahre. Ursprünglich wollten Sie den Roman adaptieren, richtig?

Als ich den Roman vor 15 Jahren gelesen habe, erzählte ich jedem, dass ich den Roman verfilmen will. Doch daraus wurde nie etwas. Und es stimmt, man kann Parallelen finden: eine verlorene Jugendgeneration, die Faszination für Konsumgüter, die Gewalt und Bombenattentate. Aber NOCTURAMA ist keine Adaption von Ellis’ Roman.

Wie haben Sie recherchiert, wie die heutige Jugend tickt?

Nachdem ich das Drehbuch in meinem Büro geschrieben hatte, traf ich beim Casting mehr als hundert Jugendliche. Einige von ihnen waren selbst politisch aktiv. Und es überraschte mich, dass sie die Geschichte sofort verstanden und authentisch fanden.

Sie sprachen von der Tradition von Aufständen in Frankreich. Welchen Einfluss hat Ihrer Meinung nach zum Beispiel die Studentenrevolte von 1968 heute noch?

Die Welt heute ist eine völlig andere als damals. Im Mai `68 gingen die jungen Leute für ihre Ideale auf die Straße, sie wollten die Welt verändern. Aber sie hatten eigentlich ein ganz gutes Leben. Heute protestieren Leute für ihre persönlichen Rechte, es geht nicht mehr um ein Kollektiv. Es ist sehr viel individualistischer geworden, die Ideologien von damals greifen nicht mehr.

Wo ist für Sie die Grenze zwischen einem Aufstand und einem Terrorakt?

Ich benutze den Begriff Aufstand lieber, weil Terror mittlerweile so an ISIS geknüpft ist. Aber die Idee, durch Gewalt bestehende Machtverhältnisse zu verändern, besteht schon so lange wie es Regierungen gibt.

Wir sehen, was sie sehen, aber wir sehen nicht, was sie denken und warum sie so handeln. Warum?

Der Film spielt an einem einzigen Tag und ich wollte mich mehr auf das Wie als das Warum konzentrieren. Das schafft eine gewisse Distanz, aber auch Unmittelbarkeit, weil wir mitten hineingeworfen werden in ihre Handlungen. Und in diesen Handlungen steckt letztlich etwas Irrationales. Eine Erklärung für ihr Handeln zu finden, ist am Ende nur der Versuch, uns zu entspannen, weil wir es in eine bestimmte Ecke stellen können. Und genau das wollte ich nicht. Ich wollte auch nicht sagen, das kommt wegen dieser oder jener Gründe, aus einem bestimmten sozialen Milieu, deswegen ist diese Gruppe Aktivisten auch so heterogen. Mir ging es um ein viel allgemeineres, weniger klar einzugrenzendes Gefühl eines gesellschaftlichen Pulverfasses.

Plötzlich war alles da, der Plot, der Handlungsort, die drei Akte, die Konzentration auf die Aktivisten

Können Sie Ihren Schreibprozess beschreiben? Wie entstehen Ihre Drehbücher?

Ich brauche zuerst eine Vorstellung von der Form, wie es stilistisch aussehen soll. Vorher kann ich nicht anfangen. Im Fall von NOCTURAMA kam mir das an einem Tag. Plötzlich war alles da, der Plot, der Handlungsort, die drei Akte, die Konzentration auf die Aktivisten. Und ich schrieb es auf ein DinA4 Blatt. Danach schreibe ich die Dialoge möglichst schnell, um dann viele Versionen zu erstellen.

Sie arbeiten auf narrativer Ebene viel mit Wiederholungen, zeigen Handlungen aus verschiedenen Perspektiven. Wie genau war das schon im Drehbuch angelegt oder entstand diese Struktur erst im Schnitt?

Es war alles im Drehbuch, das kann man nicht improvisieren. Nur so kann ich die Simultanität zeigen, damit der Zuschauer versteht, was alles parallel an verschiedenen Orten statt findet. Es ist also keine Stilfrage, es geht mir nicht um die Form, sondern um Präzision, in der Zeit und im Raum.

Sie haben einmal gesagt, ihre Welt sei eigentlich die Musik. Sie haben auch den Soundtrack zu NOCTURAMA komponiert. Stimmt es, dass der Score fertig war, bevor Sie den Film drehten?

Klassische Musik hat mich von klein auf begleitet, ich konnte schon Instrumente spielen, bevor ich lesen lernte. Mit 16 habe ich mich dann eher für Rock interessiert. Für mich ist Musik intuitiver, weniger aufwändig. Und es stimmt, bei NOCTURAMA habe ich, wie auch bei meinen anderen Filmen, die Musik komponiert, und zwar bereits während ich das Drehbuch schrieb. Die Musik erzählt etwas über die Figuren und die Handlung, sie ist nicht illustrierend, sondern wie die Dialoge, ein Teil des Drehbuchs und der Struktur.

Warum haben Sie irgendwann beschlossen, von der Musik zum Film zu wechseln?

Ich hatte jahrelang als Sessionmusiker gearbeitet, war an der Produktion von Alben beteiligt, ging mit auf Tournee und habe so viel Geld verdient. Aber mir wurde irgendwann langweilig. Also finanzierte ich mit dem Geld meinen ersten Kurzfilm. Ich hatte kaum Ahnung vom Kino, aber das war meine Filmschule und es hat mich sofort begeistert. Was Filmemachen angeht, bin ich Autodidakt und Anarchist.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser

NOCTURAMA startet am 18.5.. Zur Filmbesprechung und zu allen Spielterminen in den Indies geht es hier.