Feature, Interview
"Wir wollten das mal anders zeigen"
Interview mit Sara Fazilat über NICO
„Wir wollten einen Film machen, der so selbstverständlich divers ist wie wir, unser Publikum und die Menschen, die uns umgeben“ – so beschreibt Drehbuchautorin, Schauspielerin und Produzentin Sara Fazilat die Idee hinter NICO. Der Film, den sie mit Eline Gehring (Regie) und Francy Fabritz (Kamera) realisierte, feierte beim Max Ophüls-Preis Premiere, Fazilat wurde zur „Besten Nachwuchsschauspielerin“ gekürt. Derzeit arbeitet sie am Film ARIER und der Serie UNDERDOGS, in der Menschen ihre vermeintlichen Schwächen als Superkräfte neu definieren. Außerdem ist sie bald im Thriller HOLY SPIDER (R: Ali Abbas) zu sehen, der diesen Monat im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes uraufgeführt wird.
Mit Eva Szulkowski sprach Sara Fazilat über NICO.
INDIEKINO: Für NICO haben Sie unter anderem das Drehbuch geschrieben und selbst die Hauptrolle gespielt. Wie war es für Sie, eine Figur zu spielen, die Sie komplett selbst gestalten konnten?
Sara Fazilat: Dadurch, dass ich die Figur mitgeschrieben habe, hatte ich unheimlich viel Zeit, um sie zu gestalten, mir bestimmte Sachen anzueignen und mit in die Rolle einfließen zu lassen. In Deutschland kommt das oft zu kurz: Bei Hollywoodproduktionen zum Beispiel haben Schauspieler*innen die Möglichkeit, sich Monate auf etwas vorzubereiten, in Deutschland ist das eher unüblich. Dafür musst du dir selbst die Zeit nehmen.
Was hat es für einen Unterschied gemacht, auch als Drehbuchautorin mitten im Filmprozess zu stehen?
Das war für uns total gut, weil wir auch mit Laiendarsteller*innen gearbeitet haben. Du musst sie auf eine bestimmte Art und Weise lenken und kannst ihnen keine standardisierten Regieanweisungen geben. Es war erforderlich, dass ich genau wusste: Wo wollen wir hin in der Dramaturgie? Welche Wörter und Themen müssen fallen, welche Emotionen müssen wann wo auftauchen? Ich glaube, dass es unheimlich hilft, wenn du die Figur dazu bekommst, zu sagen, was gesagt werden muss, ohne es vorher schriftlich ausformuliert zu haben. Du kannst den Rahmen mitgestalten, aber sie sagt es auf ihre eigene Art und Weise. Es entsteht eine andere Dynamik. Darum wird uns auch oft gesagt, der Film wirke so authentisch: Weil man im Dialog ist.
Dabei spielt sicher auch eine Rolle, dass ihr in einem kleinen Team zusammen wart und so eine familiäre Atmosphäre entstehen konnte.
Ja, das war von Anfang an das Konzept. Bestimmte Filmemacher*innen wie Andrea Arnold, Asghar Farhadi, Susanne Bier oder Ken Loach (Vertreter*innen des filmischen Sozialrealismus, Anm. d. Red.) nutzen bestimmte Mittel, um so zu erzählen, wie sie erzählen. Das ist ja nicht nur ein Faktor von Geld, sondern eine Spielweise, die ich berührend und schön finde. Da ich aus dem Schauspiel komme, war es mir besonders wichtig, was von den Figuren verhandelt wird und wie wir so nah wie möglich da dran sein können. Wenn man da mit einem Team von 30 Leuten steht, ist das einfach ein Stressfaktor. Ich habe Kolleg*innen, die schon seit 30 Jahren spielen und sagen: Sobald es „Und bitte“ heißt, habe ich immer noch krasses Herzklopfen. Für Menschen, die nicht grundsätzlich vor der Kamera stehen, ist das noch einmal ein ganz anderes Hindernis.
NICO ist ein sehr körperlicher Film, für den Sie einige Strapazen auf sich genommen haben – zum Beispiel haben Sie extra für den Film ein Jahr lang Karate gelernt.
Ich habe mit Karate angefangen, weil es mir superwichtig war, dass das nicht gestellt wirkt. Ich habe auch mehr als üblich trainiert, dreimal die Woche zwei Stunden, die Prüfungen abgelegt und Gurte gemacht; mittlerweile habe ich den Braungurt. Ich finde es wichtig, dass es so authentisch wie möglich wirkt. Und gleichzeitig wollte ich auch nicht, dass wir das voyeuristisch einfach mitnehmen und wieder weggehen. Andy, also Andreas Marquardt, der Trainer, ist ja auch Teil des Films, und natürlich macht es für die Spielweise einen Unterschied, wenn du über einen längeren Zeitraum gerade mit Laiendarstellern eng zusammen bist – sie vertrauen dir anders, als wenn du immer nur sporadisch rein und raus springst. Das wäre so nicht möglich gewesen, wenn er nicht gesehen hätte: Okay, sie macht in den Prüfungen wirklich die Schläge mit, die nimmt sich das zu Herzen, sie lernt es und ist wirklich hier.
Auch bei der Zusammenarbeit mit Brigitte Kramer, die Nicos Klientin spielt, hat es wahrscheinlich einen großen Unterschied gemacht, dass Sie sich viel Zeit genommen haben.
Brigitte kennen wir schon lange – Eline und ich haben unseren Zweitjahresfilm gedreht und hatten sie als Motivgeberin (Person, die Locations für Dreharbeiten vermietet, Anm. d. Red.), seitdem hatten wir immer wieder Kontakt mit ihr. Als wir beschlossen haben, dass Brigitte Teil von NICO wird, haben wir viel Zeit mit ihr verbracht. Sie ist eine 80-jährige Frau, die in Neukölln lebt und nicht für jeden Menschen die Tür aufmacht, auch nicht für jeden, der mit Kamera reinkommt. Und sie hat uns wirklich sehr viele intime Momente gezeigt, über die wir mit ihr Rücksprache gehalten haben: Brigitte, guck dir das noch mal an! Ist es für dich okay, dass da sehr viel Haut gezeigt wird? Wir möchten dich nicht ausstellen und nichts zeigen, was du nicht möchtest. Das sind Geschenke, die kriegst du nicht einfach so von Menschen. Wie beim Karate ist es mir wichtig, Personen nicht auszubeuten, sondern wirklich ein Teil ihrer Welt zu werden. Das Körperliche war auch thematisch zentral: Karate etwa ist ein männlich dominierter Sport, und sobald Frauen im Film Sport machen, wollen sie abnehmen, zumindest wird das immer so dargestellt. Deswegen war die Körperlichkeit auch auf der Bildebene sehr wichtig – was für Stereotype gibt es, und wie kann man damit brechen?
"Wir wollten keine Liebesszene einbauen, weil es dann gleich ein Liebesfilm ist."
Auch bei der Szene, in der Nico von einer Gruppe weißer Deutscher angegriffen wird, brechen Sie mit Klischees. Rädelsführerin ist eine Frau. Wollten Sie damit explizit daran erinnern, dass auch weiße Frauen zu rassistischen Täter*innen werden können?
Solche Entscheidungen haben immer mehrere Ebenen bei uns. Einmal eben diese körperliche: Wie finde ich zurück zu meinem Körper, wie kann ich mich ermächtigen, schützen und eventuell wehren? Genauso ist es mit den Frauenfiguren: Wir wollen nicht nur sagen, auch Frauen können rassistisch sein – natürlich können sie das. Aber es geht auch darum, dass Frauen im Film oft entweder depressiv, halb tot oder halb nackt gezeigt werden. Wir sehen kaum Frauen, bei denen man denkt, ah, krass, die können auch böse oder hinterhältig sein. Einfach alles, was man so von Männern sieht, können Frauen auch sein; egal welches Alter, welche Körperform oder sexuelle Orientierung sie haben. Deshalb haben wir auch bei den Namen wie Rosa, Nico, Ronny und Toni – das ist die Angreiferin – darauf geachtet, dass sie möglichst gender- und herkunftsneutral sind. Und wir haben uns Gedanken gemacht, wie wir mit Erwartungen spielen und sie brechen können – ohne jemandem irgendetwas diktieren zu wollen, sondern indem wir es einfach als Fakt setzen. Ich heiße ja auch Sara, zum Beispiel. So haben wir auch bewusst die Nazis nicht als Nazis mit den „typischen“ Merkmalen gekennzeichnet, also mit Glatze und Springerstiefel.
Die Angreifer*innen haben gegenüber Nico zum Beispiel keine stereotypen Beschimpfungen verwendet.
Genau, das haben wir den Schauspieler*innen extra vorher gesagt. Auch da wollten wir keine Klischees zeigen und gleichzeitig ausdrücken: Rassismus ist überall, und es gibt auch enorm viel versteckten Alltagsrassismus. In der Anfangsszene sagt eine Frau aus Wut „Verpiss dich, du Fotze“, was sehr sexualisierend ist; und es ist oft so, dass das miteinander vermischt wird. Rassismus taucht überall auf und kann jede Form annehmen. Gleichzeitig ging es uns auch darum, dass jede*r sich mit der Situation identifizieren kann. Es kann sein, dass du einfach zusammengeschlagen und traumatisiert wirst, auch wenn das nicht rassistisch motiviert ist. Menschen können sich schnell distanzieren und sagen: Ah, okay, deswegen wurde sie verprügelt, das kann mich ja nicht treffen. Wenn man es aber auf dieser Ebene erzählt, kann man viele verschiedene Sachen ansprechen, ohne die ganze Zeit mit dem Zeigefinger darauf zu zeigen.
Die Beziehung zwischen Nico und Rosa ist das Herz des Films. Die Szene im Park, als die beiden sich über das Kopftuchtragen unterhalten, hat mich an IVIE WIE IVIE von Sarah Blaßkiewitz erinnert: Dort gehen die zwei Schwestern ebenfalls durch einen Park und diskutieren. Im Interview mit Filmlöwin 2021 erwähnten Sie, dass es nur wenige solcher Filme in Deutschland gibt – Filme, in denen Frauen of Colour die Hauptrollen spielen und sich (Stichwort Bechdel-Test) miteinander austauschen, ohne dass ein Mann oder eine weiße Person dabei sind.
Der Bechdel-Test war auch ein Thema bei uns – zum Beispiel wollten wir keine Liebeszene einbauen, weil es dann gleich ein Liebesfilm ist. Man denkt nie: Aber Frauen können auch andere Sachen erlebt haben, und es geht jetzt mal um was ganz anderes. Daran sieht man, in was für Strukturen wir leben, dass es letztendlich wenige Filmemacher*innen gibt, die diese Geschichten erzählen können – die ein diverses Team haben, eine andere Perspektive erzählen und sich thematisch damit beschäftigen, was für Bilder sie schaffen wollen. In der Parkszene ging es uns auch darum: Nico ist nicht die perfekte Vorzeigefrau, die nichts falsch macht. Wir alle haben Stereotype, und die Kopftuchthematik ist halt auch sehr sensibel – wir wollten das mal anders zeigen, die Person quasi entlarven: Guck mal, du hast voll die Klischees im Kopf. Es gibt auch den Moment in NICO, wo zwei BIPoC-Frauen – eine davon trägt Kopftuch – im Vordergrund zu sehen sind und hinten ist der weiße Mann, der putzt. Wir haben genau die Bilder genommen, die sonst immer reproduziert werden, aber sie neu besetzt.
Ich muss keinem erklären: Das sind Women of Colour, weil…. Sondern die gehören selbstverständlich dazu.
Haben Sie den Eindruck, dass sich in der deutschen Filmlandschaft etwas zum Besseren verändert?
Ich finde es gut, dass wir seit ein paar Jahren darüber reden – aber es wird sehr viel geredet, und es ändert sich nur sehr langsam etwas. Deswegen sind die Erfolge dieses Films so gut, dadurch kriegst du die Möglichkeit, damit weiterzumachen. Das ist wiederum ein bisschen fatal, weil ich mir denke: Wie viele andere Stoffe gibt es, wie viele Menschen, die supertolle und diverse Geschichten erzählen können, aber nicht die Chance bekommen? Ich kann nicht sagen, in welche Richtung das gehen wird, und ich weiß auch nicht, wie es jetzt bei mir sein wird. Ich weiß nur, dass ich den Film bewusst ohne Förderung gemacht habe, damit wir erzählen können, was wir erzählen wollen, auf unsere Art und Weise. Damit ich nicht darüber diskutieren muss, warum diese Menschen zwischen zwei Sprachen switchen, warum sie so aussehen, da aber nichts problematisiert wird, weder ihr LGBTQAI+-Hintergrund noch ihre vermeintliche Familiengeschichte. Ich muss keinem erklären: Das sind Women of Colour, weil…. Sondern die gehören selbstverständlich dazu. Ich habe als Schauspielerin erlebt, wie häufig man zum Beispiel mit Akzent sprechen soll – wie viele Sachen ich abgesagt habe! Und ich weiß auch von anderen Menschen, die ständig diesen Fragen ausgesetzt sind. Ich hoffe sehr, dass der Film auch andere dazu motiviert, ihren eigenen Weg zu gehen. Aber erst mal dahin zu kommen, ist schon ein krasser Lauf gewesen. Das bedeutet immer: noch einmal mehr aufstehen. Und es gibt viele Menschen, die dann eben nicht noch mal aufstehen, weil dich das in so eine Ohnmacht bringt.
Was müsste in der deutschen Filmindustrie passieren, damit es einen nachhaltigen Wandel gibt?
Ich glaube, man muss Gremien, Filmförderung und Redaktionen wirklich divers und paritätisch aufstellen – und in rotierenden Systemen. Du kriegst einfach einen anderen Wind rein, wenn du die unterschiedlichsten Menschen hast und Diversität auch nicht nur im Sinne von Haut- und Haarfarbe verstehst, sondern auch ausgeweitet auf sexuelle Orientierung, Alter, körperliche Beeinträchtigung, sozialen Hintergrund. Wenn ich mir das jetzt so angucke, geht es momentan öfter mal in die Richtung, dass Diversität durch Tokenism ersetzt wird: Menschen, die vermeintlich „divers“ sind, tauchen im Hintergrund auf oder sind quotenmäßig mit dabei, oder es wird das Narrativ des weißen Retters bedient. Diese Geschichten gibt es auch und es heißt ja nicht, dass wir sie nicht erzählen sollen. Aber wenn es in unserer Gesellschaft gerade so ist, dass wir nur diese Geschichten haben, dann gibt es da auf jeden Fall eine Schieflage.
Das Gespräch führte Eva Szulkowski