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Interview

„Wir suchen aktiv nach aufregenden neuen weiblichen Regie-Stimmen.“

Interview mit der neuen Berlinale-Intendantin Tricia Tuttle

Seit April 2024 verantwortet Tricia Tuttle, 54, die künstlerische und organisatorische Leitung der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Die US-Amerikanerin begann ihre Karriere als Gitarristin der Band June. Sie machte einen Master in Film Studies und den Bachelor of Arts in Literature and Radio, Television and Motion Pictures. In den 1990er Jahren zog Tuttle nach London. Dort arbeitete sie beim British Film Institute, der British Academy of Film and Television und der National Film and Television School. Zuletzt war sie als Direktorin des London Film Festival und Leiterin des Flare: Londoner LGBTQIA+ Filmfestival tätig.

INDIEKINO: Frau Tuttle, neue Besen kehren gut, sagt man in Deutschland. Haben Sie die Berlinale bisher neu erfunden? Was sind die wichtigsten Neuerungen?

Tricia Tuttle: Nein, es ist keine Neuerfindung notwendig. Die Berlinale ist ein sehr erfolgreiches Festival und eines der wichtigsten weltweit. Es ist ein Privileg, hier zu sein. Wir möchten jedoch die Erfolge weiter ausbauen, wie beispielsweise die Belebung des Potsdamer Platzes und die Erweiterung von Vorführmöglichkeiten, einschließlich des Bluemax Theaters.

Wie einsam fühlen Sie sich als Direktorin eines A-Festivals? Weshalb gibt es weltweit fast nur jene berühmten alten weißen Männer in den Schlüsselpositionen der Festivals?

Es gibt immer noch viele Männer in Führungspositionen, aber es tut sich etwas. Ich bin stolz, eine der wenigen Frauen in dieser Rolle zu sein, da es früher weniger künstlerische Leiterinnen gab. Es ist wichtig, junge Frauen zu inspirieren, diese Arbeit anzustreben. Was die Filmauswahl angeht, setzen wir auf Gleichstellung der Geschlechter und wählen die besten Filme aus.

Bedeutet das, dass Sie vor allem Regisseurinnen für die Berlinale fördern wollen. Oder ist eine Quotenregelung ein alter Hut?

Eine Quotenregelung halte ich nicht für notwendig. In unserem Programm liegt der Anteil an weiblichen Regisseurinnen leicht über einem Drittel, was etwas mehr ist als der Anteil an eingereichten Filmen. Wir suchen aktiv nach aufregenden neuen weiblichen Regie-Stimmen und freuen uns, wenn wir talentierte Regisseurinnen finden.

Der Teddy Award, eine Auszeichnung für queeres Kino, war einst bahnbrechend für ein Filmfestival. Ist solch ein Preis fast vier Jahrzehnte später noch notwendig oder sollte queere Filme mittlerweile nicht einfach normal sein?

Der Teddy Award ist auch fast 40 Jahre später noch sehr wichtig. Er hatte damals großen Einfluss und trägt immer noch dazu bei, queeres Kino sichtbar zu machen. Viele bedeutende Filmemacher*innen wie Pedro Almodóvar oder unser diesjähriger Jury-Präsident Todd Haynes haben den Teddy gewonnen, und der Preis ist ein unverzichtbarer Teil der Geschichte des Festivals. Wir werden ihn weiterhin bewahren und entwickeln, da er zu unserem Erbe gehört.

„Wir suchen Filme, die originell und mutig sind.“

Sie sind mit der Streichung von Subventionen und dem Verlust von Sponsoren konfrontiert. Wie düster ist der finanzielle Himmel über Berlin?

Die finanziellen Herausforderungen sind real, aber das betrifft alle großen Festivals weltweit. Wir haben bereits positive Neuigkeiten, wie neue Hauptpartner, die die Berlinale unterstützen werden, was uns optimistisch stimmt. Wir sind auf einem guten Weg, diese Herausforderungen zu meistern.

Was sagen Sie zur Preisverleihung im letzten Jahr, die für Kontroversen sorgte? Haben Sie Maßnahmen getroffen, damit die diesjährige Preisverleihung reibungsloser verläuft?

Wir haben aus dem Vorjahr gelernt und viel in die Sicherheit des Festivals investiert. Es ist unmöglich, Kontroversen vollständig zu vermeiden, aber wir versuchen, ein ausgewogenes Umfeld zu schaffen, in dem verschiedene Perspektiven gehört werden. Wir wollen den Dialog fördern und gleichzeitig die Sicherheit gewährleisten.

Die französische Filmwoche in Berlin zeigt das Programm noch in zehn anderen Städten. Wäre das kein ein Modell für die Berlinale?

Das Modell der französischen Filmwoche ist interessant, aber für ein Festival mit Weltpremieren schwieriger umzusetzen. Dennoch suchen wir nach Wegen, wie wir auch außerhalb Berlins Filme einem breiteren Publikum zugänglich machen können.

Sie kommen vom London Film Festival, wo der „Überraschungsfilm“ längst Kultstatus hat. Wie wäre es mit dem cineastischen Überraschungsei für die Berlinale?

Wir überlegen, das Konzept eines Überraschungsfilms zu übernehmen, aber es wird noch geprüft. Es ist eine interessante Idee, aber ob wir sie umsetzen, ist noch offen.

Was muss ein Film haben, um in den Wettbewerb der Berlinale zu kommen? Was macht einen Film aus, der Sie interessiert?

Wir suchen Filme, die eine klare künstlerische Handschrift haben, originell und mutig sind. Sie sollen emotional oder intellektuell ansprechen und etwas über die Welt aussagen. Wenn ein Film die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, verändert, ist das der wahre Schatz des Kinos.

Worauf freuen Sie sich am meisten im neuen Job?

Am meisten freue ich mich darauf, die Filme zu sehen. Es ist ein Privileg, Jahr für Jahr so viele neue Filme zu entdecken und die Arbeit von Filmemacher*innen mit einem Publikum zu teilen.

Was vermissen Sie in Ihrer alten Heimat London?

An Weihnachten vermisse ich nur meine Kinder, aber ich werde mit ihnen zusammen sein.

Das Gespräch führte Dieter Oßwald

Dieter Oßwald