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Interview

„Wir haben regressive Sommerfilme, die Franzosen haben progressive“

Interview mit Christian Petzold über ROTER HIMMEL

Seit seinem ersten Spielfilm DIE INNERE SICHERHEIT (2000), der davon erzählte, wie das Teenager-Kind von Linksterroristen versucht, dem restriktiven Alltag im Untergrund zu entkommen, verhandelt Christian Petzold gegenwärtige deutsche Befindlichkeiten. In seinen Filmen spielen oft die unbehausten Zwischenräume in Stadt und Land eine wichtige Räume, in DIE INNERE SICHERHEIT etwa Autobahnen und Grünstreifen. In GESPENSTER (2005) spukt es in Einkaufspassagen und Brachen der gerade boomenden Stadt Berlin. Seine realen Räume und Figuren verbindet er gern mit Genreelementen und dem Phantastischen. So lässt sich YELLA (2007) über eine junge Frau aus Ostdeutschland, die im Westen Karriere macht, auch als Geistergeschichte lesen, mit TRANSIT (2018) inszenierte Petzold einen Historienfilm in der Gegenwart, und in UNDINE (2020) spielte Paula Beer eine Fabelgestalt, die in Berlin als Museumsführerin arbeitet. Pamela Jahn hat sich mit Christian Petzold über seinen jüngsten Film ROTER HIMMEL, der im Februar auf der Berlinale den Silbernen Bären gewonnen hat und von einem Ostseeurlaub und einem Autor in der Schaffenskrise erzählt, unterhalten.

INDIEKINO: Herr Petzold, müssen Schriftsteller*innen Schlimmes erleben, um gut zu schreiben?
Christian Petzold: Das ist eine gute Frage. Denken Sie beispielsweise an einen Roman wie Sturmhöhe. Als Emily Brontë das Buch geschrieben hat, war sie eine junge Frau, die vielleicht noch nie richtig geliebt hat, und trotzdem konnte sie in dieser Intensität über Leidenschaft schreiben. Deshalb die Gegenfrage: Muss man wirklich alles erlebt haben, oder ist nicht das Erträumen von etwas genauso wichtig? Ich glaube zumindest, dass man „Sehen“ lernen kann. PULP FICTION, zum Bespiel, ist ein Film, der fast nur in geschlossenen Räumen spielt. Aber wenn Butch Coolidge, gespielt von Bruce Willis, seine Uhr wiederhaben möchte, muss er noch einmal zurücklaufen. Und in dem Moment zeigt uns Tarantino ein Los Angeles, das man bis dahin im Film nicht gesehen hat. Willis läuft über die hinteren Gassen an Wäscheleinen vorbei, über Straßen. Das ist so ein schön gefilmter und gleichzeitig realistischer Blick auf die Stadt. Aber das hat jemand, in dem Fall Tarantino, vorab gesehen und sich etwas dabei gedacht. Und für so etwas muss man seine Sinne öffnen. In dem Fall ist es kein Schriftsteller gewesen, aber das Prinzip ist das gleiche. Auch ein Autor muss etwas sehen und hören und empfinden können, um schreiben zu können. Und Leon, dem Schriftsteller in meinem Film, ist dieses „Sehen“ abhandengekommen. Er muss es schmerzhaft wieder lernen.

Eine Frage, die im Film indirekt gestellt wird, ist, ob Schreiben wirklich Arbeit ist. Wie sehen Sie das?
Das ist eine furchtbare Sache in Deutschland, weil wir mit der protestantischen Ethik erzogen werden und mit der Vorstellung, dass alles, was uns leicht fällt, nichts wert sein kann. Deswegen hat es bei uns auch die Liebe so schwer, die einem leicht fallen könnte. Und deshalb muss bei uns immer alles Arbeit sein, und die Arbeit, die reingesteckt worden ist, muss man sehen. Das geht eben so weit, dass der arme Leon in unserer Geschichte diesem Arbeitsethos hinterherläuft und ihn pausenlos beschwört. Aber in dem Moment, wo er tatsächlich etwas schaffen sollte, schläft er ein.

Wie leicht fiel Ihnen das Schreiben an diesem Drehbuch?


Total leicht. Bis auf einen einzigen Moment. Ich hatte plötzlich Bedenken, dass Leon als Figur vielleicht zu unangenehm rüberkommt, weil er so eine Spaßbremse ist. Daraufhin sagte mein Freund Matthias Brandt: „Das ist doch lustig, da könnte der Humor drinstecken.“ Und dann hatten wir Leseprobe mit den Schauspieler*innen, und die haben sich weggeschmissen vor Lachen über genau die Szenen, bei denen ich Angst hatte, dass es schiefläuft, weil Leon alles falsch macht. Selbst die Mischer in der Postproduktion schrien auf: „Jetzt geh doch mit!“, wenn Nadja ihn immer wieder fragt, ob er zum Baden mit ans Meer kommt und er stur bleibt, weil er versucht, ein Bild von sich aufrecht zu erhalten, das an allen Ecken und Enden bröckelt. Aber vielleicht ist Komödie gerade das: Jemandem zuzuschauen, der nicht zusammenbrechen will.

"In Deutschland haben wir ein ganz großes Problem mit dem Träumen, und dem Verschwenden"

Was war die Grundidee, mit der Sie an den Film herangegangen sind?
Mein Konzept war folgendes: Wir schauen jemandem zu, der die Welt betrachtet, ohne sie zu sehen. Das hatte ich vorher allen gesagt. Deshalb musste dieses Haus aus Türen, Durchgängen, Fenstern bestehen. Dann haben wir diese Laube im Garten gebaut, wie eine Bühne, wo er seine Arbeit den anderen gegenüber wie ein schlechter Schauspieler vorspielt. Auch wie die Innenräume im Verhältnis zum Außen stehen, etwa dass die Küche etwas höher liegt, wenn man nach draußen schaut, das war alles vorher genau konzipiert. Aber was die Schauspieler*innen dann aus dieser Konzeption gemacht haben, war das Glück. Das war das Schöne, dass es mit diesem Ensemble und auch mit dem Team insgesamt wirklich so gut lief. In dem Sinne verliefen die Dreharbeiten wie ein ganz, ganz leichter Sommer.

Bleiben wir noch kurz beim Haus. Als Leon und Felix dort ankommen, ist Nadja schon da. Es herrscht Unordnung, die sich im Laufe des Films verflüchtigt. Spiegelt der Ort für Sie den Erkenntnisprozess wider, der sich in Leon vollzieht?

Es gibt zwei Arten von Ferien-Filmen. In dem einen kommen Menschen an und bevölkern ein Haus, das noch unschuldig ist. Und der andere Film zeigt ein Haus, das Menschen erwartet. Das heißt, in diesem Haus ist bereits einiges passiert. Kurz: Der eine Film beginnt mit Schuld, der andere mit Unschuld. Das sind zwei völlig verschiedene Konzepte. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum wir in Deutschland so wenige Sommerfilme haben, die ohne Eltern auskommen. Wir haben regressive Sommerfilme, die Franzosen haben progressive, weil sich an den Stränden die Klassen vermischen, die Eltern keine Rolle spielen, man die Liebe erlernt und die Kränkung, die Einsamkeit, aber auch das Glück. Die Franzosen nennen das die Erziehung der Gefühle; aus den Jugendlichen werden Menschen. Im amerikanischen Kino gibt es das auch, nur da ist dieser Prozess im Horror-Genre verankert. Da bleibt ein Auto stecken, jemand sagt, er kennt eine Abkürzung. Ein Haus im Wald. Kettensägen sind ganz nah. Und das habe ich immer bewundert, auch ein bisschen beneidet, weil uns diese Schule der Gefühle fehlt. ROTER HIMMEL hat von beidem etwas: Die Strandszenen, das Haus, das sich als Falle herausstellt, zumindest könnte es so sein. Und dazwischen versucht sich eine Art deutscher Sommerfilm durchzusetzen.

Was hatten die Franzosen und die Amerikaner uns in der Hinsicht voraus?
Ganz so kann man das nicht sagen. Es gibt vereinzelt schon auch schöne deutsche Sommerfilme. ROTE SONNE von Rudolf Thome zum Beispiel. Oder ein Film wie TSCHICK. Aber ein Genre ist es nicht geworden. Und ich glaube, das liegt zum Teil daran, das wir in Deutschland ein ganz großes Problem mit dem Träumen haben, und mit dem Verschwenden. Weil bei uns alles, aber auch wirklich alles verwertbar sein muss. Selbst der Sommer muss verwertbar sein. In den amerikanischen und französischen Sommerfilmen spiegelt sich dagegen die große Sehnsucht nach Zeiten der Verschwendung. Und mir fehlt das ein bisschen. Wir kennen das nicht.

"Ich habe mir gesagt, dass Film eine Ensemble-Arbeit sein muss, weil das Ensemble dem Einzelnen immer überlegen ist."

Ähnlich wie in TRANSIT reißen Sie in ROTER HIMMEL erneut die Mauern zwischen Literatur und Kino ein. Was hat es damit auf sich?
Die Antwort ist eine der kürzeren, aber es hat lange gedauert, bis ich zu der Einsicht gekommen bin. Das Kino ist immer Gegenwart. Was gefilmt wird, ist in diesem Moment da. Egal, ob es sich um einen historischen Film handelt oder nicht, es sind Filme aus dem Jetzt. Die Figuren können noch so alte Kostüme tragen, die Regie kann noch so viel Nebel in die Szenen pumpen lassen, es hilft alles nichts. Deshalb sind die schönsten historischen Filme, die, die wissen, dass sie ihm Jetzt spielen und eine Erinnerung sind - die Erinnerung von einer möglichen Vergangenheit. Um bei TRANSIT zu bleiben: In dem Augenblick, als die Stimme von Matthias Brand ertönt, ist diese Gegenwart, die wir gerade gesehen haben, schon erinnert. Was wir sehen und die Stimme daneben machen aus diesem gegenwärtigen Bild sofort ein vergangenes. Wir haben also beide Zeitebenen, das Heute und das Gestern, und so schleicht sich der Tod in dieses Gegenwartsbild ein.

Diesmal ist es aber anders, weil das, was wir am Ende hören, das Geschriebene ist, der Roman. Und plötzlich stellt sich die Frage, ob das, was wir sehen, tatsächlich die Wirklichkeit ist.

Ja, und das ist eben das Tolle am Kino, das alles, was wir sehen, auch ein Traum sein könnte. Das gefällt mir so sehr, weil es dann ein Traum ist, den nur ich geträumt habe, und der andere neben mir nicht - deswegen gehört mir der Film in dem Moment, und nur mir allein.

Bei UNDINE ging es ums Wasser, in ROTER HIMMEL ist es das Feuer. Welches Element wird Ihren nächsten Film bestimmen?

Ich habe mir diese Trilogie selber eingebrockt, jetzt muss ich da irgendwie auch wieder rauskommen. Ich beschwere mich über die protestantische Ethik und die Arbeit in Deutschland und bin selber ein brutales Opfer davon. Ich erzähle immer von diesen Trilogien, weil ich dann angehalten bin, noch zwei weitere Filme zu drehen. Aber ich habe jetzt erst mal keine Lust auf eine Trilogie und werde etwas anderes machen.

Fällt es Ihnen heute leichter als früher, sich diese Freiheit zu nehmen?
Insgeheim glaube, dass das gar nicht geht. Auch die Leute, die immer sagen, ich mache jetzt komplett was anderes, machen am Ende genau das. Mein Freund Harun Farocki hat als Herausgeber der Zeitschrift Filmkritik einmal eine Ausgabe über Männer gemacht, die weggegangen sind. Es gibt ja das berühmte Beispiel: Ein Mann sagt: „Ich geh' mal Zigaretten holen“, und kommt nicht wieder, lässt seine Frau, seine Kinder zurück und geht für immer weg. Und Harun hat damals eine Rezension über ein berühmtes Buch aus den USA geschrieben, in dem anhand von 25 Fällen beschrieben wurde, was aus diesen Männern geworden ist. Interessanterweise hatten alle wieder eine Frau, zwei Kinder, nach dem exakt gleichen Muster. Deswegen denke ich, dass all die Leute, die sich vornehmen, was ganz anders zu machen, am Ende wieder in derselben Scheiße landen. Das Schönste ist, wenn man nicht merkt, dass man etwas anders macht, und ich habe es bei diesem Film tatsächlich nicht gemerkt. Erst am zehnten, zwölften Drehtag wurde mir bewusst, wie viel Freude die Schauspieler*innen an der Improvisation haben, und wie sehr mich das berührt und nicht nervt, während ich sonst bei meinen anderen Filmen immer ein echter Kontrollfreak war.

Es heißt, Ihre besondere Gabe ist es, eine Atmosphäre zu kreieren, in der Sie Ihren Darsteller*innen eine große Sicherheit geben, ihr Talent entfalten zu können. Wie schaffen Sie das?
Ich habe in meinem ganzen Leben nie als Regieassistent gearbeitet. Ich weiß bis heute nicht, wie andere Leute arbeiten. Und ich bin auch nicht theateraffin. Ich gehe lieber ins Kino, für mich ist das die überlegenere Kunst. Aber ich habe während meines Studiums fünf Jahre als Beleuchter an der Schaubühne gearbeitet. Und da lag ich oben auf der Rasterdecke und konnte die Proben von Peter Stein und dem damaligen Dramaturgen Dieter Sturm anschauen. Und die beiden haben den Schauspielern etwas gegeben, wo ich dachte, das ist richtig. Denn Sturm hatte Wissen, Filme gesammelt, Fotos, hat Vorträge gehalten, und Peter Stein hat Gruppen arrangiert. Und von oben aus betrachtet hatte ich das Gefühl, zu sehen, wie die Schauspieler*innen in diesem Prozess wachsen. Seitdem habe ich mir gesagt, dass Film eine Ensemble-Arbeit sein muss, weil das Ensemble dem Einzelnen immer überlegen ist.

Das Gespräch führte Pamela Jahn

Pamela Jahn