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Feature, Interview

Wir erzählen keine True-Crime-Geschichte

Interview mit Hans-Christian Schmid über WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN

Hans Christian Schmid studierte an der HFF München Dokumentarfilm. Nach einigen Fernseharbeiten filmte er 1995 die Komödie NACH FÜNF IM URWALD. Mit 23 – NICHTS IST SO WIE ES SCHEINT (2005), der an den Fall des Hackers Karl Koch und REQIUEM der an den Tod von Anneliese Michel während eines Exorzismus in den 70er Jahren angelehnt war, drehte Schmidt zwei Filme nach realen Ereignissen. Auch STURM (2009), über einen Kriegsverbrecherprozess in Den Haag, enthält dokumentarische Elemente. Pamela Jahn hat sich mit Hans-Christian Schmid über seinen neuen Film WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN unterhalten.

Wie haben Sie die Entführung in Erinnerung?

Fast gar nicht, weil ich im April 1996 in Los Angeles war und wir zeitgleich meinen ersten Spielfilm, NACH FÜNF IM URWALD, ins Kino gebracht haben. Der Starttermin war am 18. April, als die Entführung noch nicht beendet war. Daher erinnere ich mich nur dunkel daran, davon erfahren zu haben. Erst durch Johann Scheerers Buch, das im Jahr 2018 erschienen ist, wurde mir das überhaupt wieder bewusst. Vor allem auch, was die Entführung damals für hohe Wellen geschlagen hat. Dass es diesen "Spiegel"-Titel gab. Und dass lange Zeit nicht über den Fall geschrieben wurde, nachdem die Berichterstattung über das Geiseldrama in Gladbeck so katastrophal aus dem Ruder gelaufen war, dass man jeden Schritt „live“ begleiten konnte.

Ihr Film basiert auf dem Buch von Johann Scheerer und nicht auf den Erinnerungen Jan Philipp Reemtsmas, der seine Erlebnisse in dem 1997 erschienenen Buch „Im Keller“ dargestellt hat. Warum lieferte die Sichtweise des Sohnes für Sie den interessanteren Ansatzpunkt?

Weil die Perspektive für mich die ungewöhnlichere ist. Ein 13-Jähriger versucht, zu beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn ein Elternteil, in diesem Fall der Vater, entführt wird. Abgesehen davon, dass ich nie überlegt hatte, Jan Philipp Reemtsmas Buch zu verfilmen, hätte ich mich unwohl gefühlt, im Film auszustellen, was er als Entführter in diesem Keller mitgemacht und empfunden hat. Johanns Entscheidung, meinem Ko-Autor Michael Gutmann und mir die Verfilmung seines Buches anzuvertrauen, hat sicher auch mit diesem Ansatz zu tun.

Der Fall Reemtsma ist mit Abstand der prominenteste, den Sie bisher verfilmt haben. Hatten Sie Bedenken, sich darauf einzulassen?

Ich habe große Scheu davor, in das Privatleben von Menschen einzutauchen und bei der Recherche in Bereiche vorzudringen, die mich eigentlich gar nichts angehen. Ich bin von Natur aus eher zurückhaltend und ahne, dass wir den Menschen sehr viel abverlangen, dass es eigentlich eine Zumutung ist, in diese Bereiche vorzudringen. Aber in dieser Hinsicht hat uns Johann Scheerer sehr geholfen. Er wollte, dass aus seinem Buch ein Film entsteht, also hat er uns Gespräche mit sämtlichen Zeitzeugen ermöglicht. Und dann fand ich es natürlich spannend, diese Menschen zu treffen und herauszufinden, was die lange Zeit im Haus damals für sie bedeutet hat, was diese Erfahrung mit ihnen gemacht hat.

Sie verzichten im Film auf genaue Zeitangaben. Dadurch stellt sich auch beim Zuschauer schnell ein Gefühl der Orientierungslosigkeit ein.

Ich finde das einen interessanten Effekt, weil ich glaube, dass es den Leuten im Haus genauso gegangen ist. Die dachten ja am Anfang, wir sind hier für fünf oder sechs Tage versammelt, dann gibt es ein Angebot der Entführer, anschließend die Lösegeldübergabe und 48 Stunden später ist Jan Philipp Reemtsma wieder frei. Dass es dann aber knapp fünf Wochen wurden, hat sich niemand vorstellen können. Und ich fände es falsch, im Sinne eines Pseudo-Realitätsbezugs, irgendwelche Daten einzublenden. Das wird ja sehr häufig gemacht, um dem Publikum zu vermitteln, das ist schon wirklich so passiert. Mich stört schon, wenn ich einen Film sehe und da steht am Anfang so etwas wie „Marokko 1959“, weil ich weiß, dass es nicht stimmt. Aber ich soll das jetzt glauben, weil es da steht. Das ist nicht meine Art zu arbeiten.

"In meiner Arbeit stehen die Menschen im Mittelpunkt, nicht so sehr ein bestimmtes Genre"

Sie haben über Ihren Film REQUIEM, in dem Sie von einem tödlichen Fall von Exorzismus erzählen, darauf bestanden, den Film in erster Linie als eine Familiengeschichte zu sehen. Wonach suchen Sie als Filmemacher?

Wir sind natürlich alle Teil einer Familie, deshalb ist diese Formulierung etwas allgemein. Aber in meiner Arbeit stehen die Menschen im Mittelpunkt, nicht so sehr ein bestimmtes Genre. Deswegen hat mich bei REQUIEM die Beziehung der Tochter zu ihrer Mutter mehr interessiert als den Exorzismus zu zeigen, in den diese Konstellation mündet. Meine Filme sind in erster Linie Dramen oder eine bestimmte Art von Komödie, wie bei CRAZY oder NACH FÜNF IM URWALD, die beide etwas leichtere Stoffe sind.

Sie sind zunächst als Dokumentarfilmer an die Filmhochschule gegangen. Hat das auch damit zu tun, wie Sie heute arbeiten?

Ja, ich wollte mit den Mitteln des Dokumentarfilms von den Menschen erzählen, die mich umgeben. Und bei einer Geschichte wie dieser war uns klar, für viele Zuschauerinnen und Zuschauer ist es „die Reemtsma-Entführung“. Deshalb haben wir vermieden, im Film den Namen Reemtsma zu nennen, weil wir uns da nicht so dranhängen wollen. Wir erzählen keine True-Crime-Geschichte, eher im Gegenteil, einen Anti-Thriller. Deswegen haben wir versucht, all das nicht zu machen, was man typischerweise hätte machen können: Nicht zu zeigen, wie der Entführte überwältigt wird. Keinen Ermittler auf Seiten der Polizei zu haben, sondern nur die Betreuer im Haus. Nicht auf die Krimi-Aspekte zu setzen. Das finde ich fast schon gespenstisch, weil man am Anfang gar nicht merkt, ob überhaupt jemand ermittelt. So rückten automatisch die Menschen mehr in den Mittelpunkt. Es entsteht genug Raum, um über den abwesenden Vater nachzudenken, an dem alles Handeln ausgerichtet ist.

Zugespitzt könnte man vielleicht sagen, Sie nehmen ganz bewusst Abstand vom Dokumentarischen, um eben diese Einordnung in einen realen Kontext zu umgehen. Als hätten Sie innerlich damit zu kämpfen.

Ein innerer Kampf ist es nicht, eher eine bewusste Entscheidung. Ich habe als Dokumentarfilmer gemerkt, dass die Kamera meistens stört, wenn man an den Kern der Dinge kommt. Dass sich diejenigen, die man porträtiert, einem gerade dann entziehen, wenn sich die Ereignisse zuspitzen. Der Spielfilm macht das Gegenteil: Er kann mit all seinen Mitteln genau dort hingehen, wo man spürt, wie Menschen ticken, wie sie handeln, sich streiten, an ihre Grenzen gehen. Und dann versuche ich, eine Art Verabredung mit dem Zuschauer einzugehen, und erzähle die Szenen, obwohl sie von mir hergestellt wurden, so, dass das Publikum vergisst, dass das, was es sieht, nicht echt ist. Die Mittel des Kinos zu nutzen, soll eine ganz eigene Qualität haben

"Reemtsma hat in zwei Häusern gelebt, weil er sich in einem der beiden Häuser mit seinen Büchern umgeben wollte."

Man sagt im Nachhinein immer gerne, heute würde eine Entführung so nicht mehr passieren. Wie sehen Sie das?

Ich glaube schon, dass so etwas wieder passieren kann. Das Problem ist nach wie vor, dass die Polizei den Auftrag hat, die Täter zu fassen. Der Wunsch der Angehörigen ist jedoch, den Entführten oder die Entführte zurückbekommen. Sie wollen nicht, dass die Übergabe durch Polizeimaßnahmen gefährdet wird. Der Chef des Sicherheitsdienstes, der im Film auch eine kleine Rolle hat, meinte sogar, dass wir von den allermeisten Entführungen nichts mitbekommen, weil sich viele Angehörige mittlerweile nicht mehr an die Polizei wenden würden, sondern an Sicherheitsdienste. Denn die müssen keine Täter fassen, sie müssen nur das Geld übergeben.

Sie üben indirekt auch Kritik an der Polizei.

Ich würde da unterscheiden zwischen dem, was die beiden Betreuer im Haus geleistet haben und zwischen der Taktik der Einsatzführung der Polizei. Die hatten auch untereinander durchaus Diskrepanzen. Wir haben deshalb im Gespräch mit dem Einsatzleiter geklärt, dass wir zwar faktisch alles richtig darstellen, aber im Film den Namen ändern, weil wir nicht speziell Kritik an einer einzelnen Person üben wollten. Die Polizeiarbeit ist für mich eher ein Nebenaspekt. Wir haben im Zuge der Recherchen gemerkt, da gibt es noch etwas, was wir gerne mit erzählen würden. Das war anfangs nicht so geplant. Auch weil es in Johanns Buch kaum eine Rolle spielt. Weil er das aus seiner Perspektive des 13-jährigen Jungen gar nicht einschätzen konnte. Für ihn waren die Pannen der Polizei wirklich Pannen, und im Film ist es ein bewusstes Vorgehen, wenn bei der geplanten Übergabe das Auto zu spät losgeschickt wird.

Sie haben bereits das Setting erwähnt, die beiden Häuser, in denen die Familie Reemtsma zum Zeitpunkt der Entführung lebt. Warum sind Orte für Sie so wichtige Protagonisten, auch in diesem Film?

Für mich sind Schauplätze ein Teil des Wesens des Kinos. Ich versuche, die Eigenheiten der Orte ernst zu nehmen, sie mit zu erzählen. Hier war es so, dass die Geschichte fast nur in einem Haus spielt. Das ist zunächst mal unfilmisch: Menschen sitzen an einem Tisch und reden, hinter ihnen eine Wand. Deshalb haben wir uns viele Gedanken gemacht, welche Blickachsen wir verwenden können, wie die Zimmer angeordnet sein müssen, damit Johann vom ersten Stock aus Geräusche hören oder Beobachtungen von der Treppe aus machen kann. Wir haben darauf verzichtet, mit einer Drohne über das Haus zu fliegen, wie es in jedem Fernsehkrimi zu sehen ist. Wir wollten uns auf das Wesentliche beschränken: Die Dialoge und die Figurenkonstellation. Die Gesichter der Schauspieler an diesem Esszimmertisch. In dem Moment tritt das Haus in den Hintergrund. Wir haben auch vermieden, den Reichtum der Familie auszustellen, weil wir bei der Recherche gesehen haben, dass die Familie das auch nicht tut. Jan Philipp Reemtsma hat in zwei Häusern gelebt, weil er sich in einem der beiden Häuser mit seinen Büchern umgeben wollte.

Die Fakten sind bekannt, die Reemtsma-Entführung nahm ein gutes Ende. Hätten Sie sich entschieden, den Film zu machen, wenn sie anders ausgegangen wäre?

Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber wenn ich mit Johann Scheerers Worten antworten würde, dann hat die Entführung kein gutes Ende genommen. Natürlich, sein Vater wurde freigelassen, aber die Entführung an sich war für die Familie traumatisierend, und danach ist nicht einfach alles wieder gut.

Das Gespräch führte Pamela Jahn

Pamela Jahn