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Interview, Feature

„Wie wird man eigentlich böse? Und was ist überhaupt böse?

Interview mit Katrin Gebbe zu PELIKANBLUT

INDIEKINO: Frau Gebbe, Ihr zweiter Film folgt gewissermaßen den Fußstapfen des ersten. Es geht erneut um Menschen, die anderen absichtlich Leid zufügen, und um Menschen, die sie davon abbringen wollen. Glauben Sie eigentlich an Gut und Böse?

Katrin Gebbe: Es stimmt, es fing schon während der Arbeit an TORE TANZT an, dass ich mich sehr mit Fragen beschäftigt habe wie: Was ist gut, was ist böse? Wie wird man eigentlich böse? Und was ist überhaupt böse? Sind das Psychopathen? Und wenn ja, wie wird man ein Psychopath? Wird man so geboren? Oder sind das Traumata, die da dahinterstecken? Und sind die vielleicht heilbar?
Es gab in der Hinsicht vor allem einen Dokumentarfilm, CHILD OF RAGE, der mich wahnsinnig beeindruckt hat. Darin geht es um ein junges Mädchen, das total traumatisiert war und keine Emotionen mehr empfinden konnte, weder Angst noch Empathie, was beispielsweise dazu führte, dass sie ihren kleinen Bruder missbrauchte. In der Therapie sagt sie sogar einmal, dass sie eigentlich ihre Pflegeeltern umbringen möchte. Als ich das hörte, dachte ich: Wow, das ist ganz schön krass, auch für die Pflegeeltern. Im Zuge meiner Recherchen habe ich dann rausgefunden, dass das Mädchen irgendwann tatsächlich abgegeben wurde und es aber danach eine neue, ganz bezaubernde Pflegemutter gab, Nancy Thomas, die sich dieses Kindes angenommen hat und die das Kind letztlich auch adoptiert hat. Diese Frau hat es geschafft, dass aus dem Mädchen, von dem man eigentlich sagen würde, die ist nicht mehr zu retten, ein aufopferungsvoller, emphatischer Mensch wurde. Aber Nancy Thomas hat darüber hinaus auch andere Kinder aufgenommen, denen sie nicht mehr helfen konnte. Mich hat es gereizt, diesen ganz speziellen Konflikt zu beleuchten. Mit anderen Worten: Wie weit kann man als Frau und Mutter eigentlich gehen? Ist es das wert, die eigene Familie zu gefährden, wenn man so ein Kind aufnimmt? Wann muss man vielleicht sagen, man kann nicht mehr, beziehungsweise zu welchen Mitteln würde man im äußersten Fall greifen, wenn man jemandem unbedingt helfen möchte?

Wiebke, die Mutter im Film, bekommt nicht nur wiederholt zu hören, sondern muss auch am eigenen Leib erfahren, dass Liebe allein scheinbar nicht genug ist für diese Kinder.

Ja, denn auch wenn es allgemein heißt, dass man mit Liebe, Geduld und Zuversicht alles erreichen kann, stimmt das eben nicht immer. In einem Fall wie diesem kommen wir nicht nur gesellschaftlich, sondern auch menschlich total an unsere Grenzen. Und so kam es dann auch, dass es im Film am Ende immer mehr um die Mutter geht und weniger um das Kind. Das Mädchen ist im Grunde ein Katalysator für das, was die Mutter erlebt und den Weg, den sie geht.

Wiebke ist ein Mensch, der sich für ihre Adoptivkinder aufopfert wie für die Tiere, mit denen sie arbeitet. Wann kamen die Pferde mit ins Spiel?

Die Figur Wiebke ganz konkret zu erschaffen, war ein eigenständiger Prozess. Ich bin irgendwann auf ein Buch gestoßen, in dem es um Pferdeflüsterer ging, und fand es total spannend, was diese Menschen für Biografien hatten. Denn sehr oft gab es in ihrem Leben ebenfalls eine Hintergrundgeschichte, in der es um Vertrauen oder, besser gesagt, gebrochenes Vertrauen ging. Und bei der Arbeit mit Pferden, die ihre Halter attackieren, geht es natürlich auch darum, dass die Tiere in den meisten Fällen nur gefährlich werden, weil sie bestimmte Dinge erlebt haben, die sie dazu veranlassen, sich zu wehren. Die Pferdeflüsterer versuchen daraufhin, das Vertrauen im Tier neu herzustellen, indem sie sich auf dessen Ängste einstellen und mit viel Einfühlungsvermögen daran arbeiten, das bestehende Mistrauen abzubauen. Und für mich war das ein ähnliche Perspektive, wie die, aus der Wiebke die Welt betrachtet. Wie sie mit Lebewesen umgeht, was sie offen macht für die Entscheidungen, die sie trifft, egal wie extrem die sein mögen. Vielleicht steckt auch dahinter, dass sie sogar selbst ein Stück weit wie so ein gebrochenes Tier agiert. Und deshalb fühlte sich das für mich irgendwie ganz natürlich an, dass sie diese Geschichte haben könnte, diesen Beruf, diesen Leben.

Ich finde, der deutsche Film dürfte einfach ein bisschen mehr Experimentierfreude erfahren

Ihre Hingabe ist das eine, andererseits ist Wiebke bisweilen unheimlich hartnäckig und stur. Sind das Charakterzüge, die Ihnen selbst auch nicht ganz fremd sind?

Ja, das bin eigentlich ich. Und wenn Sie mich jetzt fragen, was der Film mit mir zu tun hat, dann würde ich sagen, dass ich, wenn ich an etwas glaube oder etwas unbedingt schaffen möchte, wahrscheinlich auch bis ans Äußerste gehen würde, um diesen Traum nicht aufgeben zu müssen. Auch Filmemachen ist wahnsinnig anstrengend. Man versucht etwas zu kreieren, aber auf dem Weg dorthin stößt man ständig auf irgendwelche Stolpersteine. Und auf die muss man reagieren und sich dem hingeben und gucken, was wartet da jetzt auf mich. Ich komme ja eigentlich aus der Kunst und da geht es auch immer darum, dass der Künstler einen Prozess durchmacht und sich bewusstwird: Was genau steckt da jetzt eigentlich von mir drin? Andererseits war es auch ein wichtiger Ansatzpunkt im Hinblick auf Wiebke, dass nicht nur das Kind sich ändern muss, sondern dass auch sie auf eine Reise geht und dabei zu einer Mutterrolle findet, die sie so bisher noch gar nicht ausgefüllt hat, obwohl sie bereits zuvor ein Adoptivkind bei sich aufgenommen hatte. Aber diese Entwicklung, die sie mit Raja durchmacht, vertieft ihr Mutterempfinden noch einmal auf eine ganz besondere, viel archaischere Art und Weise.

Wenn man sich Ihre bisherigen Arbeiten anschaut, geht es immer eher in die düsteren Ecken der menschlichen Seele. Woher kommt dieses starke Interesse für das Böse sowie für Mythen und Religion?

Ich weiß es nicht. Ich kann mich selber so schwer psychologisieren, aber das Interesse ist in jedem Fall seit meiner Pubertät da. Damals hat sich das langsam herauskristallisiert und dann war es plötzlich ganz extrem da. Und ich glaube zumindest, das hat damit zu tun, dass ich vorher ein sehr unreflektiertes Leben geführt und eine glückliche Kindheit gehabt habe. Aber irgendwann kommen immer mehr Sachen zusammen und man hinterfragt bestimmte Dinge und merkt, dass die Antworten vielleicht gar nicht so einfach sind, dass alles viel komplexer ist, als man zunächst geglaubt hat. Ich bin ganz klassisch in einer Dorfgemeinde groß geworden, so einem Bullerbü, und da beobachtet man die Leute und hört allerhand Sachen. Die Menschen werden schnell verurteilt. Aber wenn man einmal hinter die Fassaden schaut, dann wartet dort etwas völlig anderes. Deshalb interessiert es mich heute ganz speziell, was dahintersteckt.
Ich weiß auch gar nicht, ob man das jetzt unbedingt als dunkel oder böse bezeichnen darf, denn ich glaube, beides gehört zu uns dazu. Beides sind ganz starke Kräfte in uns, das Gute und das Böse, wenn Sie so wollen. Und ich finde es spannend und wichtig, zu untersuchen, warum es so etwas wie Nazideutschland gibt, weil es mittlerweile auch politisch wieder Thema wird. Weil man eben nicht sagen kann, das waren die Nazis und die sind jetzt ausgestorben, denn das stimmt ja nicht, wie man sieht. Aber andererseits zu behaupten, das sind alles schlimme Menschen, das geht auch nicht. Damit macht man es sich zu einfach. Deshalb geht es mir darum, Fragen zu stellen, um zu ergründen, was treibt den Menschen in die eine oder die andere Richtung. Denn ich glaube, das ist der einzige Weg, tatsächlich auf Dauer in jeder Hinsicht weiterzukommen, ob zwischenmenschlich oder politisch.

Sie hatten mit Ihren Debütfilm TORE TANZT sehr früh sehr viel Erfolg. Sie waren damals kaum dreißig. Ist das für eine junge Regisseurin eher Segen oder Fluch?


Das kann man so oder so betrachten. Erstmal ist es natürlich ein Segen, weil man dann weitermachen darf. Es ist ja nicht so, dass jeder, der Film studiert, dann auch gleich die Gelegenheit bekommt, einen Debütfilm zu drehen. Und als Frau, das wissen wir ja nur zu gut, ist es sowieso nochmal schwerer. Und wenn man dann so wie wir mit TORE TANZT auf einem großen Festival wie Cannes laufen darf, dann ist natürlich erstmal ein ungeheures Geschenk. Ich habe es wahnsinnig genossen, all diese Menschen kennenzulernen, all diese Filmemacher, die unterschiedlichen Perspektiven. Es ist andererseits allerdings schon auch so, dass der Druck extrem hoch ist. Und wenn man dann den zweiten Film macht, das sagen ja viele, dann ist der sogar der schwerste, weil man irgendwie das Ganze noch einmal hinkriegen muss, aber anders, denn man will ja auch nicht zweimal denselben Film machen. Gleichzeitig muss man herausfinden, wer man eigentlich ist, was man für Filme erzählen möchte. Bei mir war das definitiv ein längerer Ritt. Ich habe zwischendurch ja auch noch andere Sachen gemacht und dann doch irgendwann gemerkt, dass ich am ehesten Lust darauf habe, Autorenfilmerin zu sein. Jetzt bin ich zwar gerade wieder an einem Punkt, an dem ich mir auch vorstellen könnte, alles Mögliche andere zu machen, aber ich habe auch das Gefühl, ich muss jetzt erstmal wissen, was meine Sprache ist, muss herausfinden, was kann und was will ich überhaupt.

War der Tatort, den Sie zwischen den beiden Spielfilmen gedreht haben, ein Wunschprojekt? Sind Sie Fan?


Irgendwie schon. Irgendwie hatte ich große Lust, das zu machen. Es hat sich dann allerdings schnell herausgestellt, dass sich die Art der Arbeitsweise in diesem speziellen Fall als äußerst schwierig erwies und ich eine extreme Unfreiheit erlebt habe. Das fand ich sehr schade, weil ich gemerkt habe, dass ich gar nicht das machen kann, worin ich eigentlich am besten bin. Das ist auch ein Grund dafür, warum ich danach erst einmal kein weiteres Fernsehprojekt angenommen habe, weil ich wirklich ziemlich traurig war, dass man mich angeblich eigentlich haben, mich aber letztendlich nicht wirklich machen lassen wollte.

Was würden Sie sich als junge Regisseurin denn für den deutschen Film wünschen?


Ich finde, der deutsche Film dürfte einfach ein bisschen mehr Experimentierfreude erfahren. Denn das Leben ist so reich, der Mensch ist so reich. Und ich selber interessiere mich auch so sehr für andere Erzählformen, dass ich hoffe, dass die Erfolge von einzelnen Filmen national und international vielleicht auch anderen Regisseuren und Regisseurinnen helfen, ihre Projekte zu verwirklichen, um einen neuen Reichtum an tollen, spannenden Kinoerlebnissen zu ermöglichen. Denn davon gibt es bisher noch immer nicht genug.


Das Gespräch führte Pamela Jahn