Interview
„Wer gerade stärker ist und wer unterwürfig, variiert durchaus.“
Regisseurin Halina Reijn und Hauptdarstellerin Nicole Kidman über BABYGIRL.
Die niederländische Regisseurin Halina Reijn (*1975, Amsterdam) begann ihre Karriere als Theater- und Filmschauspielerin, bevor sie 2019 mit INSTINCT über eine Psychologin, die sich auf ein psychisches Duell mit einem verurteilten Sexualstraftäter einlässt, zur Regie wechselte. Einen deutschen Kinostart hatte die Horrorkomödie BODIES, BODIES, BODIES (2022) über eine Gruppe von Freund*innen, die glauben, dass jemand aus ihrem Kreis ein Mörder ist. Bei BABYGIRL ist Reijn erstmals auch für das Drehbuch verantwortlich.
Patrick Heidmann hat sich mit Halina Reijn und Hauptdarstellerin Nicole Kidman über BABYGIRL unterhalten.
INDIEKINO: Halina Reijn, Sie haben jüngst gesagt, dass Sie BABYGIRL als Brief an sich selbst geschrieben hätten, Wie genau nahm der Film seinen Anfang?
Halina Reijn: Wenn ich anfange, mir eine neue Geschichte auszudenken, beginne ich gerne mit einer ganz konkreten Frage, denn das hilft mir dabei, überhaupt erst einmal anzufangen. In diesem Fall – übrigens das erste Mal, dass ich ein Drehbuch komplett allein schrieb – war das die Frage, ob es möglich ist, sich selbst komplett und vollständig zu lieben. Also nicht nur die Seiten an mir, auf die ich stolz bin und die ich auch gerne anderen und nach außen zeige. Sondern eben auch all das an mir, wofür ich mich vielleicht schäme, was ich als Makel empfinde oder was mich nervös macht, wenn andere es zu sehen bekommen. Der Film begann also quasi als ein Tribut an mich selbst, und als ein Versuch, mit meinem wahren, authentischen Selbst ein bisschen mehr ins Reine zu kommen.
Nicole Kidman, fühlten Sie sich davon sofort angesprochen? Sie halten ja offenkundig immer Ausschau nach spannenden Regisseurinnen, mit denen Sie eine Zusammenarbeit reizen könnte.
Nicole Kidman: Halina fiel mir erstmals auf, als ich ihren Debütfilm INSTINCT sah, die ungewöhnliche und sehr mutige Geschichte einer Gefängnispsychologin, die einem Serienvergewaltiger erliegt. Ich nahm Kontakt zu ihr auf, und wir nahmen uns schnell vor, mal zusammen zu arbeiten. Aus einem ersten Projekt, das wir ins Auge fassten, wurde nichts, aber da hatte sie schon mit dem Schreiben von BABYGIRL begonnen. Sobald das Drehbuch fertig war, schickte sie es mir – und ich habe ohne zu zögern zugesagt. Das war eigentlich nur der erste Entwurf und Halina sagte immer, das sei noch gar nicht ausgereift. Aber ich empfand die Geschichte als so erstaunlich und kraftvoll, dass ich das unbedingt machen wollte.
Was genau reizte Sie denn so sehr an der Protagonistin Romy, die Karriere und Familie gleichermaßen riskiert, als sie sich auf eine Affäre mit einem jungen Praktikanten einlässt?
Kidman: Ich fand es spannend, eine Frau zu sehen, die auf der Höhe ihrer Karriere steht und in ihrem Leben offenkundig alles erreicht hat und trotzdem an einer Weggabelung steht. Sie ist offenkundig bereit, alles, was sie sich aufgebaut hat, zu sabotieren, als sie sich eingesteht, dass sie eigentlich in einer tiefen Krise steckt. Einerseits kann sie alles haben und machen, was sie will, aber ist andererseits gar nicht authentisch sie selbst, weil sie einen entscheidenden Teil dessen, wonach sie sich eigentlich sehnt, einfach ausblendet. In dem Moment, wo sie das zu ändern bereit ist, beginnt sie eine emotionale und sexuelle Odyssee, wie ich sie – zumal von einer Frau – noch nie auf der Leinwand gesehen habe.
War es Ihnen wichtig, dass eine solche Geschichte über die Abgründigkeit einer Karrierefrau von einer Regisseurin und nicht einem Mann erzählt wird?
Kidman: Keine Ahnung, ob wichtig das richtige Wort ist. Halinas Geschichte wirkte auf mich sehr authentisch und menschlich, und darauf kam es für mich an. Außerdem hatte ich kein Interesse daran, etwas zu spielen, was ich in dieser Form schon öfter gesehen habe. Ich will gar nicht sagen, dass so etwas nicht auch hätte von einem Mann kommen können. Aber vermutlich ist bei BABYGIRL gerade der Blick auf das Thema Macht doch ein speziell weiblicher. Zumindest wäre eine mächtige Frau, die irgendwann zu dem Schluss kommt, dass sie gar nicht immer nur mächtig sein, sondern auch mal dominiert werden will, in anderen Händen als Halinas sicherlich nicht derart nuanciert und komplex ausgefallen.
Was denken Sie, Frau Reijn? Ist BABYGIRL in dieser Hinsicht ein Film, den ein Mann so nicht hätte inszenieren können?
Reijn: Nun, die Filmgeschichte lehrt uns ja: Männer können alle Filme inszenieren. Haben sie schließlich die meiste Zeit über immer und überall gemacht. Dass wir Frauen bei den Geschichten, die im Kino erzählt werden, langsam ein bisschen mehr Raum einnehmen, ist ja wirklich eine noch sehr neue Entwicklung. Dass unsere Geschichten besser sind, würde mir zu behaupten nie einfallen. Aber sicherlich sind mein Blick als Frau und meine Perspektive zumindest anders. Wobei meine Weiblichkeit das Männliche natürlich nicht ausschließt. BABYGIRL steht für mich ganz eindeutig im Zwiegespräch mit den Geschichten, die mich dazu inspiriert haben. Und die stammen alle von Männern, sowohl die großen Theaterklassiker von Shakespeare, Ibsen und O’Neill, in denen ich selbst früher auf der Bühne stand, als auch die erotischen Thriller der 90er Jahre. Ganz zu schweigen davon, dass mein Film ja genauso sehr wie von Weiblichkeit auch von Männlichkeit handelt und hinterfragt, was es heißt, Mann zu sein, als Mann zu begehren und die Grenzen des Erlaubten auszuloten.
Meiner Meinung befinden sich beide in einer Krise, in der sie herausfinden müssen, wer sie eigentlich sind.
Sind CEO Romy und der von Harris Dickinson gespielte Praktikant Samuel am Ende also gar nicht so verschieden wie es zunächst scheint?
Kidman: Ich würde sagen, sie ringen beide auf ihre Weise mit ihrer Lust und ihrer Begierde. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass sie – ohne es sich bewusst zu machen – beide füreinander heilsam sind.
Reijn: Meiner Meinung befinden sich beide in einer Krise, in der sie herausfinden müssen, wer sie eigentlich sind. Bei ihr ist das eher eine Midlife-Krise, bei ihm mehr diese Verunsicherung, die man in seinen Zwanzigern hat, wenn man noch nach seinem Platz in der Welt sucht. Als ihre Wege sich kreuzen, sind beide auf ihre Weise verletzlich und angreifbar. Weswegen ihre Dynamik auch nie eine eindeutige Dom-Sub-Beziehung ist. Wer gerade stärker ist und wer unterwürfig, variiert durchaus. Mal hat sie die Zügel in der Hand, mal er, und dieses Hin und Her empfinde ich als gleichermaßen witzig wie berührend.
Frau Reijn, wie schlägt sich die Tatsache, dass Sie selbst lange als Schauspielerin gearbeitet haben, bei der Inszenierung einer solchen Geschichte nieder?
Reijn: Ich habe zumindest immer im Blick, wie ich selbst als Schauspielerin gerne gearbeitet habe und mit welchem Drehbedingungen ich mich wohl gefühlt habe. Deswegen hat für mich die enge Kollaboration mit meinen Schauspieler*innen oberste Priorität und ist vor allem von sehr viel Offenheit geprägt. Natürlich weiß ich, genau wie mein Kameramann, in jeder Szene, worauf es mir ankommt und wo ich hin will. Eine möglichst genaue Vorbereitung ist das absolute A und O. Aber ist es im Zweifelsfall eben unwichtig, ob Nicole 30 Zentimeter weiter links oder rechts steht. Ich versuche, den Schauspieler*innen die Freiheit, Spontanität und Sicherheit zu geben, aus dem Moment heraus zu agieren, Risiken einzugehen und etwa der elektrisierenden Spannung, die sich zwischen Nicole und Harris entwickelte, wirklich freien Lauf zu lassen.
Kidman: Ich muss hier auf jeden Fall kurz mal zu Protokoll geben, wie gut Halina genau das Beschriebene gelingt. Weil sie einerseits genau weiß, wie man als Schauspielerin tickt, und andererseits als Autorin die Psychologie der Figuren bis in die kleinsten Nuancen verstanden hat, genoss ich bei ihr eine Freiheit, die wirklich keine Selbstverständlichkeit ist. Wir konnten uns bewegen wie auf einer Theaterbühne und entsprechend mit jeder Faser unseres Körpers die Atmosphäre der jeweiligen Szene spüren.
Zum Schluss noch eine Frage zur Musik, denn die spielt in BABYGIRL eine besondere Rolle. Worauf kam es da an?
Reijn: Zunächst einmal war immer klar, dass George Michaels Song „Father Figure“ eine prominente Rolle im Film zukommen wird. Für mich einer der großartigsten Songs aller Zeiten – und schon des Titels wegen musste der in BABYGIRL vorkommen. Ansonsten hatte ich mit Cristóbal Tapia de Veer einen tollen Komponisten, den viele sicherlich dank seiner Arbeit für die Serie „The White Lotus“ kennen. Seine Musik ist so wunderbar urwüchsig und trotzdem verspielt. Das war mir wichtig, denn auch wenn es in vielen Szenen um alles geht und Romy ihren Job genauso aufs Spiel setzt wie ihre Familie, sollte das Publikum doch nie aus den Augen verlieren, dass es hier um ein sexuelles Spiel geht, um ein Märchen und eine Sittenkomödie. Ich wollte immer signalisieren: Man darf lachen und man darf auch erregt sein. Dazu trägt der Score auf spannende Weise bei, nicht zuletzt weil Cristóbal zum Beispiel ganz viel mit den Atemgeräuschen von Nicole und Harris arbeitet, die er für die Musik genauso gesampelt hat wie animalische Geräusche von Wölfen und Hunden.
Das Gespräch führte Patrick Heidmann