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"Wenn man nichts mehr kalkuliert oder hinterfragt - dann kann man von Liebe sprechen"

Interview mit Park Chan-Wook

INDIEKINO BERLIN: Mr. Park, Ihr neuer Film „Die Taschendiebin“ basiert auf dem britischen Bestseller „Solange du lügst“ von Sarah Waters. Was hat Sie an diesem Roman gereizt?

Park Chan-Wook: Vielleicht war es – unbewusst – die Struktur der Geschichte. Mein Film JOINT SECURITY AREA hatte damals eine ähnliche Herangehensweise. Auch dort wurde die Geschichte zunächst aus einer Perspektive erzählt und anschließend noch einmal aus einer zweiten. Auch in SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE waren Spuren dieser Herangehensweise präsent. Das muss mich also bei Sarah Waters irgendwie angesprochen haben. Auch wenn ich mir das beim Lesen überhaupt nicht bewusst gemacht habe. Da dachte ich nur: „Oh Mann, das könnte ein wirklich unterhaltsamer Film werden“.

Haben Sie viele Änderungen gegenüber der Vorlage vorgenommen?

Ich habe besagte Struktur noch stärker ausgebaut. Und in der zweiten Hälfte des Films auch durchaus einiges verändert. Aber die Grundzüge und nicht zuletzt eben diesen Perspektivenwechsel beizubehalten war mir wichtig, denn letzterer macht den Reiz dieser Geschichte aus.

Ursprünglich spielt die Geschichte im viktorianischen England. Sie nach Korea zu übertragen, war sicherlich die größte Herausforderung, oder?

Die wichtigsten inhaltlichen Ideen, die nun in DIE TASCHENDIEBIN zu finden sind, habe ich alle aus der Vorlage übernommen. Von entscheidender Bedeutung war etwa, dass die Geschichte in einem dezidierten Klassensystem mit strengen sozialen Hierarchien spielt. Dazu kamen andere Elemente, an denen man nicht rütteln konnte, etwa die Irrenanstalt als Bestandteil des medizinischen Fortschritts. Es gab für mich nur eine einzige Möglichkeit, all dies beizubehalten und die Geschichte trotzdem nach Korea zu übertragen.

Bei Ihnen spielt sie nun in den 1930er Jahren.

Genau, denn das war die Zeit, in der moderne, westliche Medizin und ihre Heilungsansätze nach Korea kamen. Nur damals, als Korea von den Japanern besetzt war, gab es bei uns eine Art Klassensystem, mit einer Ober- und einer Unterschicht. Wer Geld hatte oder intellektuell war, machte sich zum Kolonial-Lakaien, um es jetzt mal so auszudrücken. Das fügte der Geschichte des Romans sogar noch mal eine weitere Facette hinzu, die im Übrigen auch durchaus heute noch Relevanz hat. Nur dass die vermeintliche Oberschicht heute nicht mehr japanisch, sondern möglichst amerikanisch sein will.

Ich habe nicht dezidiert etwas über Homosexualität oder lesbische Frauen erzählen wollen

DIE TASCHENDIEBIN ist aber natürlich auch eine Geschichte über die Liebe. Mal ganz platt gefragt: Was ist Ihre Definition von Liebe?

Keine platte, sondern eine komplexe Frage. Auf den Punkt gebracht würde ich sagen, dass wahre Liebe vor allem darin besteht, dass man sich vollkommen seinen Emotionen ergibt. Wenn man sich ausschließlich von den Gefühlen leiten lässt und nichts mehr analysiert, kalkuliert oder hinterfragt – dann kann man von Liebe sprechen. Was ja in meinem Film genau so zu sehen ist: Erst als die beiden Frauen vollkommen offen miteinander sind und keine Geheimnisse mehr vor einander haben, wird ihre Liebe wahrhaftig.

War das Thema Homosexualität in diesem Kontext für Sie wichtig?

Nicht vordergründig. Wie gesagt: mich reizte Waters Roman im Ganzen – und auch diese Thematik gehörte zwingend dazu. Ich habe nicht dezidiert etwas über Homosexualität oder lesbische Frauen erzählen wollen. Aber das war auch nichts, was mich abgeschreckt hätte, sollten Sie das meinen.

Tatsächlich ist der Umgang mit Homosexualität in Korea doch aber noch von viel weniger Selbstverständlichkeit geprägt als etwa in vielen europäischen Ländern oder den USA, nicht wahr?

Oh ja, keine Frage. In dieser Hinsicht ist Korea noch sehr viel konservativer als der Westen. Nicht zuletzt übrigens was das Kino angeht. Wie vermutlich überall sind koreanische Independent-Produktionen deutlich fortschrittlicher, da werden durchaus auch mal schwule und lesbische Geschichten erzählt. Aber im Mainstream-Kino gab es vor DIE TASCHENDIEBIN eigentlich noch keinen Film, in dem Homosexualität derart präsent war.

Mussten Sie in diesem Zusammenhang mit Zensur rechnen?

Nein, es gibt in Korea keine Zensur bei Kinofilmen nur weil gleichgeschlechtliche Liebesszenen zu sehen sind.

Warum also schrecken Ihre Kollegen davor zurück?

Man nimmt einfach an, dass das Mainstream-Publikum sich bei dem Thema unwohl fühlt. Und bei manchen Zuschauern wird das vielleicht auch stimmen. Aber DIE TASCHENDIEBIN hat mit dem Erfolg in Korea auch gezeigt, dass es anders geht. Trotzdem ist es ja auch weltweit nach wie vor so, dass die Produzenten, die nach dem großen Geld schielen, lieber heterosexuelle Bettszenen zeigen als homosexuelle.

Reichtum, Eleganz, Luxus, Kunst – all diese Elemente sind entscheidende Bestandteile der Welt, in der meine Geschichte spielt

Ihre Hauptdarstellerin Kim Min-hee ist in Korea ein großer Star. Auch nicht selbstverständlich, dass jemand wie sie eine derart freizügige und womöglich kontroverse Rolle spielt.

Ach, doch, eigentlich schon, würde ich sagen. Kim Min-hee und auch alle meine anderen Schauspieler sind Künstler, die haben nicht wirklich Berührungsängste oder sind sonderlich konservativ. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich irgendwen überreden muss oder an die eine oder die andere Szene besonders behutsam herangehen muss. Niemand hatte irgendwie Probleme mit dem Sex, der Brutalität oder anderem.

War Kim Min-hee Ihre erste Wahl als Hideko?

Sie war tatsächlich sogar die erste im gesamten Ensemble, der ich das Drehbuch schickte. Und es dauerte nur zwei oder drei Tage bis sie anrief und zusagte. Ihre Eleganz, ihre Anmut und vor alle die Nuancen in ihrem Spiel kamen mir auf Anhieb in den Sinn. Vermutlich kennen Sie in Europa nur einen Bruchteil ihrer Filme. Aber ich habe selten eine solche schauspielerische Weiterentwicklung mitangesehen wie die zwischen ihren ersten Rollen und dem, was sie nun in DIE TASCHENDIEBIN abliefert. Nach all den Jahren, in denen sie eher Model war und wohl noch nicht richtig Lust auf die Schauspielerei hatte, ist sie inzwischen unfassbar leidenschaftlich bei der Sache.

Lassen Sie uns noch über die visuelle Seite des Films sprechen, schließlich gewann DIE TASCHENDIEBIN selbst in den USA etliche Auszeichnungen für das Produktionsdesign. Wie wichtig ist Ihnen die Schönheit eines Films?

Sie ist sicherlich nicht das Ziel dieser Arbeit gewesen. Mir ging es nur darum, die Figuren und ihre Emotionen so wahrhaftig und genau wie möglich zu zeigen. Aber in diesem Versuch zeigte sich schnell, dass dies nur mittels einer gewissen Ästhetisierung möglich war. Man muss sich nur einmal anschauen, was für eine Art Königreich sich Hidekos Onkel Kuzukiaufgebaut hat, in dem er seine Nichte großgezogen hat. Das musste schon nach ein bisschen was aussehen. Reichtum, Eleganz, Luxus, Kunst – all diese Elemente sind entscheidende Bestandteile der Welt, in der meine Geschichte spielt.

Gleichzeitig haben natürlich auch Gewalt und Perversion ihren Platz. Aber in der Art und Weise, wie Sie inszenieren, erstaunlicherweise durchaus auch Humor. Ist das ein schmaler Grad, auf dem Sie sich erzählerisch bewegen?

Ich finde Humor als Regisseur immer einigermaßen schwer, einfach weil er mehr als alles andere an Kultur und Sprache geknüpft ist. Wenn man möchte, dass ein Film auf der ganzen Welt gesehen wird, dann wird es mitunter schwierig. Französische Komödien sind für ein koreanisches Publikum zum Beispiel selten lustig. Man versteht bei uns diesen Witz nicht unbedingt. Deswegen mache ich mir immer sehr viele Gedanken, wie und wo ich welche Art von Humor in meinen Filmen einsetze. Und natürlich welchem Zweck er dient. In der VENGEANCE-Trilogie etwa ging es vor allem darum, eine Distanz zwischen dem Publikum und dem Geschehen auf der Leinwand zu erzeugen. Bei DIE TASCHENDIEBIN war nun eher das Ziel, die Zuschauer mittels des Humors noch weiter in die Geschichte hineinzuziehen.

Letzten Endes ist ein Filmset immer ein Filmset

Beim 1. International Film Festival in Macao haben Sie gerade ein Screening von Nicolas Roegs WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN präsentiert, als einen der Filme, die Sie am meisten beeinflusst haben. Warum?

Für mich gibt es keinen besseren Erotikthriller. Ohne Frage ein Film, der Gänsehaut verursacht. Besonders die Sequenz, in der eine Sexszene mit Donald Sutherland und Julie Christie immer wieder von Vorausblenden unterbrochen wird, ist unvergleichlich.

Neben Roeg haben Sie in der Vergangenheit auch schon Kollegen wie Ingmar Bergman, Sam Fuller oder Roman Polanski als Einflüsse genannt. Hat Sie nur das westliche Kino geprägt?

Das ist ein falscher Eindruck, der manchmal in solchen Interviews entsteht. Es ist einfach leichter, diese Namen aufzuzählen, als die von koreanischen Kollegen, die ich verehre. Deren Namen sind Ihnen und Ihren Kollegen meist nicht vertraut. Sie wissen nicht, wie man sie schreibt, und dann tauchen sie später in den Texten einfach nicht auf, selbst wenn ich sie erwähnt habe. Deswegen verweise ich hier noch einmal explizit auf Kim Ki-young, dessen Film THE HOUSEMAID von 1960 mich mehr beeinflusst hat als alle anderen.

Sie selbst haben mit STOKER vor ein paar Jahren auch schon den Sprung nach Westen gewagt und auf Englisch gedreht. Werden Sie das wieder tun?

Mal sehen. Bei DIE TASCHENDIEBIN habe ich gemerkt, wie viel Freude ich wieder am Koreanischen hatte. Dass ich mit dieser Sprache so vertraut und in ihr zuhause bin, könnte ein Grund dafür sein, dass dies mein dialoglastigster Film ist. Plus natürlich, dass ich über die Dialoge ziemlich viele Informationen vermitteln musste. Aber letzten Endes ist ein Filmset immer ein Filmset, egal ob in Korea, in Hollywood oder anderswo. Und im Moment habe ich noch keine Ahnung, was mein nächster Film wird – und in welcher Sprache ich ihn drehen werde.

Das Gespräch führte Patrick Heidmann