Feature, Interview
„Was wäre, hätte Gott die Welt ohne Alkohol geschaffen?“
Interview mit Thomas Vinterberg zu DER RAUSCH
Gemeinsam mit seinem dänischen Landsmann Lars von Trier gehört Thomas Vinterberg zu den Verfasser*innen des „Dogma 95“-Manifestes, das eine puritanische Haltung beim Einsatz von Technik forderte, und zu den weltweit bekanntesten dänischen Regisseur*innen. Von Vinterberg stammen unter anderem das Familiendrama DAS FEST (1998), das in Cannes den Jurypreis bekam, DIE JAGD (2012) und DIE KOMMUNE (2016). Sein jüngster Film DER RAUSCH wurde im Frühjahr mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet und gewann den europäischen Filmpreis. Ausgangspunkt des Films ist eine Männerfreundschaft und eine fixe Idee: Martin (Mads Mikkelsen) und seine Freunde sind angeödet von ihrem Leben und dem Job als Lehrer. Um ihr Potential auszureizen, testen sie eine Theorie des norwegischen Philosophen Finn Skårderud. Demnach soll ein Mensch mit einer halben Promille Alkohol im Blut zu geistigen Höchstleistungen im Stande sein. Das Resultat ist verblüffend, doch dann eskaliert das Experiment.
Dieter Oßwald hat sich mit Thomas Vinterberg über seinen Film unterhalten.
INDIEKINO: Herr Vinterberg, als Sie auf der Berlinale DER RAUSCH ankündigten, prophezeiten Sie einen Shitstorm wegen des Feierns von Alkohol. Nun bekommen Sie auf Festivals beste Kritiken dafür...
Thomas Vinterberg: Das Projekt hat sich verändern. Zu Beginn war die Idee, etwas Sensationelles, leicht Provokatives über Alkohol zu erzählen. Churchill zum Beispiel schickte 200.000 Zivilisten in den Krieg. Bei dieser Entscheidung war er nicht betrunken, aber vermutlich eben auch nicht nüchtern.
Aber dann erkannte ich, viel faszinierender ist das Thema, wie diese akzeptierte Droge die Menschen beflügeln und gleichzeitig tödlich sein kann.
Stimmt diese Story mit Churchill oder ist das eine Legende?
Wir wissen nicht, ob diese Geschichte stimmt. Aber viele Zeitzeugen erzählen von seiner Vorliebe von Champagner zum Frühstück. Für mich klingt sein Vorhaben auch nicht nach einer Idee im Suff. Vielmehr ist es ein sehr mutiger und überzeugend irrationaler Plan - genau solche Ideen bekommt man im Stadium zwischen nüchtern und betrunken. Vielleicht ist die Sache mit Churchill auch nur ein Mythos - aber machte das etwas aus?
Ihre Film-Trinker berufen sich auf den norwegischen Psychiater Finn Skårderud, wonach dauerhafter Alkohol-Genuss die Leistung steigere. Gibt es diesen Trinker-Denker oder haben Sie ihn erfunden?
Finn Skårderud existiert, seine Theorie existiert seit 20 Jahren und er steht bis heute dazu. Er sagt, durch Alkohol wird man mutiger und kreativer, doch das meint er polemisch. Ich habe ihn getroffen und er war begeistert, dass wir seine Theorie im Film aufgreifen. Vor allem mochte er, dass wir dieses Thema nicht mit einer moralischen Botschaft versehen.
In Stufe 1 wird die Person eine außergewöhnlich beflügelte Version ihrer selbst. In Stufe 2 muss man trinken, um wieder man selbst zu sein.
Schauspieler, die Betrunkene spielen, wirken selten glaubhaft. Wie haben Sie das Problem gelöst, mit echtem Alkohol für die Akteure?
Die Schauspieler haben beim Dreh keinen Alkohol getrunken - was sie in den Pausen im Wohnwagen gemacht haben, weiß ich allerdings nicht (lacht). Einen zwölfstündigen Drehtag würde man betrunken nicht durchstehen. Einen Besoffenen zu spielen, bedeutet harte Arbeit, zudem viel Recherche: Wir haben reichlich russische Videos auf YouTube angeschaut!
Vom besoffenen Russen lernen, heißt siegen lernen. Was war die Lektion der Wodka-Videos?
Wenn man in sehr betrunkenem Zustand stürzt, dann schützt man sich nicht mehr. Man fällt einfach auf das Gesicht, ohne die Hände noch davor zu halten. Diesen Ablauf haben wir für den Film übernommen, natürlich mit den notwendigen Sicherheitsmaßnamen für die Schauspieler.
Neben dem Fallen geht es auch ums Tanzen. Zum Happy End darf Mads Mikkelsen zeigen, was er einst auf der Tanzschule gelernt hat. Wie kam es zu diesem fröhlichen Schluss à la Fred Astaire?
Fred Astaire oder besser: Alexis Sorbas! Solche Dinge bekommt man als Bonus, wenn man Rollen schreibt für Leute, die man gut kennt. Aus diesem Grund schreibe ich meine Figuren fast immer mit vertrauten Schauspielern im Hintergrund. Bei Mads wusste ich von seiner Tänzer-Vergangenheit und ich wollte zeigen, wie sich seine Figur sich mit diesem Tanz regelrecht befreit. Es bedurfte allerdings einiger Überredung, bis Mads dazu bereit war. Beim Tanzen gibt man schließlich sehr viel von sich preis.
Nicht nur Ihren Filmhelden gelingt dieses Wagnis vor allem mit Alkohol...
Stimmt, dieses Phänomen wollte ich im Film erforschen. Machen wir ein Gedankenexperiment: Was wäre, hätte Gott die Welt ohne Alkohol geschaffen? Ich bin sicher, wir hätten dann eben einen anderen Weg zum Unkontrollierbaren gefunden.
Was wäre passiert, hätten sich Ihre Lehrer an die 0,5 Promille-Grenze gehalten? Mit diesem Level ging es ihnen doch tatsächlich sehr viel besser.
Ich habe gelernt, dass Alkohol in Phasen kommt. In Stufe 1 wird die Person eine außergewöhnlich beflügelte Version ihrer selbst. In Stufe 2 muss man trinken, um wieder man selbst zu sein. Denn jetzt ist man ein miese Version seiner selbst und braucht Alkohol, um in den ursprünglichen Zustand zu kommen. Der Übergang von Phase 1 zu 2 geschieht unmerklich. In Stufe 3 schließlich kommt es zu körperlichen Problemen, wenn man nicht trinkt. Deswegen empfehle ich, in Stufe 1 zu bleiben. Wer ehrlich zu sich ist, wird erkennen, wie knapp man vor Stufe 2 steht: Du brauchst deinen Wein zum Essen, um weniger missgelaunt zu sein. Oder du trinkst jeden Abend deine Flasche Roten. An dieser Stelle sollte man aufhören, und zwar für eine längere Zeit. Nur so kommt man zurück in Stufe 1.
Wie lange haben Sie sich in Stufe 1 aufgehalten?
Mein Leben ist das ganze Gegenteil von Stufe 1, es wird bestimmt durch Kinder, Karriere, Kontrolle und Planung. Oft denke ich: Die Zeit vergeht und ich trinke nicht genug. Aktuell stimmt das nicht ganz, weil ich mit dem Film auf Festivals unterwegs bin, da schleicht sich Alkohol ständig überall ein.
Das Gespräch führte Dieter Oßwald