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Interview

„Was Filme so großartig macht, ist nicht die Nacherzählung der Realität, sondern ihre Verzerrung oder Verzauberung.“

Interview mit Regisseur Halfdan Ullmann Tøndel über ARMAND

Der norwegische Filmemacher Halfdan Ullmann Tøndel, Enkel von Liv Ullmann und Ingmar Bergman, wurde 1990 geboren und studierte Film an der Westerdals Oslo School of Arts, Communication and Technology. ARMAND ist sein erster Spielfilm und wurde in Cannes 2024 für die herausragende Kameraarbeit von Pål Ulvik Rokseth mit der Camera d’Or ausgezeichnet.

Pamela Jahn hat sich mit Ullman Tøndel über sein Debüt unterhalten.

INDIEKINO: Sie haben mit Anfang zwanzig einige Jahre lang als Assistent an einer Grundschule gearbeitet. Wollten Sie selbst einmal Lehrer werden?

Halfdan Ullmann Tøndel: Nein, ich habe in der Schule in vielen verschiedenen Positionen gearbeitet. Es war ein guter Nebenjob. Ich wollte etwas Sinnvolles tun, während ich versuchte, herauszufinden, was ich mit meinem Leben anfangen soll.

Um nicht Filmregisseur zu werden, wie Ihr Großvater Ingmar Bergmann?

Ja, alles, nur das nicht. So habe ich lange gedacht. Aber am Ende habe ich einen Kurs an der Universität belegt, in dem es auch ums Filmemachen ging, und es fühlte sich einfach gut und richtig an. Danach habe ich mich an der Filmhochschule beworben und seitdem nie wieder zurückgeschaut.

ARMAND ist Ihr erster Spielfilm. Hatten Sie die Geschichte schon länger im Kopf?

Ja und nein. Während des Studiums erzählte mir ein Freund auf einer Party von einem Campingausflug aus seiner Kindheit. Es ging darin um einen anderen Jungen, der mit dabei war - eigentlich eine lustige Geschichte. Aber davon ausgehend begann meine Fantasie zu spielen. Irgendwie kam ich dann sehr schnell auf Elisabeths Figur. Ich hatte plötzlich eine sehr klare Vorstellung davon, wie sie sein würde, also keine klassische Mutterrolle. Ich brauchte nur etwas Zeit, um den richtigen Platz für sie zu finden.

Was hat Sie an ihrem Charakter fasziniert?

Ihre Unberechenbarkeit hat mich zugleich erschreckt und gereizt. Man weiß nie, ob sie die Wahrheit sagt, oder was sie wirklich denkt. Vielleicht ist sie tatsächlich ein Opfer der vielen Gerüchte und Vorurteile, die über sie kursieren. Oder sind wir es, die sich vor ihr in Acht nehmen müssen? Ich finde es unheimlich, dass sie in einer Sekunde stark und klug und manipulativ sein kann, und im nächsten Moment völlig hilflos erscheint.

Haben Sie während des Schreibens für sich entschieden, wann sie spielt und wann sie einfach nur Elisabeth ist?

Ich glaube nicht, dass sie sich dessen selbst bewusst ist. Im Drehbuch habe ich versucht, ihre Persönlichkeit und ihre Absichten so ehrlich wie möglich wiederzugeben, ebenso wie die der anderen Mutter, Sarah. Beide Frauen haben ihre Geheimnisse und ihr jeweiliges Glaubenssystem. Sie folgen jede für sich ihrer eigenen inneren Wahrheit.

Der Film befindet sich in diesem seltsamen Grenzbereich zwischen Satire, Komödie, Drama und Horrorszenario

Einmal ist Elisabeth in einer wunderschönen kleinen Tanzszene zu sehen. Liegt darin ein Akt der Befreiung für die Figur?

Das war ursprünglich nicht meine Intention, aber im Nachhinein denke ich auch, dass Elisabeth in dem Moment neue Kraft schöpft, sich selbst wieder aufbaut, um weiterzukämpfen für sich und für ihren Sohn.

Musik scheint insgesamt von großer Bedeutung zu sein, wenn es um Elisabeths Gefühle und Gedanken geht?

Wir haben die Musik eigentlich nie als subjektiv oder explizit im Hinblick auf Elisabeth betrachtet. Der Film ist in seiner Tonalität insgesamt schwer zu greifen, weil er sich in diesem seltsamen Grenzbereich zwischen Satire, Komödie, Drama und Horrorszenario befindet. Es war schwierig, da die richtige Balance zu finden. Wenn ich ehrlich bin, habe ich bei der Musik weniger an Elisabeth als an das Setting gedacht. Sie sollte zu der klaustrophobischen Atmosphäre passen, die in der Schule existiert, und zu der damit verbundenen Angst.

Die Schule wirkt oft wie ein Labyrinth, mit kleinen Nischen und Zufluchtsorten für die verschiedenen Charaktere. Inwieweit waren diese Räume durch den Drehort vorgegeben?

Ich bin selbst ziemlich erstaunt, wie viel von dem, was man im Film sieht, mit meiner ursprünglichen Idee übereinstimmt. Ich hatte mir genau überlegt, wie die Schule aussehen, sich anfühlen und klingen sollte. Ganz konkret war ich von Wong Kar-wais IN THE MOOD FOR LOVE inspiriert. Mir gefiel schon immer sehr, wie er die Wohnung darin gefilmt hat, und dass man nie genau weiß, wo sich die Zimmer im Verhältnis zu den Figuren befinden. Die roten Toilettenräume erinnern an Kubrick, und das dunkle Klassenzimmer mit dem Projektor ist eine Anspielung auf ein Gespräch zwischen Walter Murch und Francis Ford Coppola über den „blauen Raum“. Das alles hat die Suche nach dem richtigen Gebäude ungleich schwerer gemacht. Wir haben uns 250 Locations angesehen, bis wir schließlich an der Westküste Norwegens die perfekten Räumlichkeiten fanden.

Sie geben keinerlei Hinweise auf den Standort der Schule. Warum?

Weil nicht nur die Figuren, sondern auch der ganze Film sozusagen seiner eigenen Logik folgt. Er existiert für sich allein, in seinem eigenen Universum. Wenn man als Zuschauer zu viele Hinweise über Zeit oder Ort erhält, lenkt das meiner Meinung nach vom Wesentlichen der Geschichte ab.

Das Schulsystem, das Sie im Film zeigen, ist fehlerhaft. Man spürt es, sobald der falsche Feueralarm einsetzt.

Als ich bei meinem Nebenjob selbst mitbekam, wie das Schulwesen funktioniert, hatte ich stets das Gefühl, dass es eigentlich überhaupt kein System gab. Wann immer ein Problem aufkam oder es einen Konflikt zu lösen galt, waren die betreffenden Mitarbeiter und alle Beteiligten mit der Frage auf sich allein gestellt, wie man damit umgehen sollte. Allein die Tatsache, dass ich als Zwanzigjähriger ohne jede Unterstützung und nur auf der Grundlage meines eigenen Bauchgefühls mit wirklich ernsten Fällen umgehen musste, empfand ich als extrem seltsam und schockierend.

Ähnlich geht es der jungen Klassenlehrerin, die das Elterngespräch führen soll.

Genau. Sie möchte den Fall auf eine gute Art und Weise lösen, aber sie ist unsicher, weil keiner weiß, was wirklich geschehen ist, oder wie man am besten mit der Sache umgeht. Es gibt kein Protokoll.

Demnach liegt die Schuld bei der Schulleitung?

Die Absichten des Direktors halte ich in der Tat für unklar und egoistisch. Aber ich würde es sogar noch allgemeiner formulieren: Viele Menschen in Machtpositionen in Norwegen wollen nur den Anschein erwecken, dass sie Führungskompetenzen besitzen. Etliche der Aussagen des Schulpersonals im Film entsprechen so ziemlich dem Wortlaut der Pressekonferenzen unserer Regierung während der Pandemie, als der Premierminister und der Gesundheitsminister verkündeten, wie man versuchen würde, der Situation Herr zu werden. Oder vielmehr: Wie man viele Worte benutzt, ohne wirklich etwas zu sagen oder zu tun.

Ich weiß nicht, ob es Vorurteile sind. Aber es gibt sicher Missverständnisse.

Die Dynamik zwischen den beiden Müttern ist die treibende Kraft des Films. Ist Sarah nicht eigentlich diejenige, die alle manipuliert?

Keine Frage, sie sorgt dafür, dass der Fall eskaliert. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Sarah aus einem inneren Schmerz heraus handelt, der real und verständlich ist. Ihre Gefühle sind echt. Wenn Sie einmal versuchen, den Film nur aus ihrer Perspektive anzuschauen, verändert sich die Dynamik der Geschichte grundlegend. Es kommt darauf an, wie man die Dinge betrachtet. Das mag jetzt furchtbar klischeehaft klingen, aber wir sehen immer nur, was wir sehen wollen. Dabei ist unsere vorgeformte Wahrnehmung oft das größte Problem.

Wie gut können Sie persönlich mit Vorurteilen umgehen, die man Ihnen heute vielleicht aufgrund Ihrer Großeltern entgegenbringt?

Ich weiß nicht, ob es Vorurteile sind. Aber es gibt sicher Missverständnisse. Viele Leute denken, dass ich meine Kindheit in luxuriösen Häusern mit schicken Autos vor der Tür verbracht habe, auch wenn dem nicht so war. Natürlich bin ich in dieser privilegierten Situation, in eine außergewöhnliche Familie hineingeboren worden zu sein, und das ist wunderbar. Gleichzeitig ist es eine Bürde, die ich jedoch gern auf mich nehme. Das Einzige, was ich tun kann, ist, mich auf meine eigene Arbeit zu konzentrieren.

Gab es einen bestimmten Moment, als Sie für sich mit Ihrer familiären Herkunft Frieden geschlossen haben?

Ich habe mir lange gar nicht den Kopf darüber zerbrechen müssen, denn anfangs wusste keiner, wer ich war. In der Filmschule habe ich es bis zum dritten Jahr niemandem erzählt. Ich habe meinen Nachnamen Ullman verschwiegen. Und die Leute, die es wussten, haben sich mir gegenüber immer sehr respektvoll verhalten, da mein Großvater nicht mehr lebt und auch meine Großmutter (Liv Ullmann) mittlerweile nicht mehr aktiv in der Filmbranche tätig ist. Erst als wir mit ARMAND nach Cannes eingeladen wurden, ist die ganze Geschichte explodiert. Da wurde mir klar, dass ich mir darüber keine Gedanken machen darf. Ich kann es nicht ändern, und ich kann nicht kontrollieren, was die Medien schreiben. Also versuche ich es erst gar nicht.

Trotz des sehr realen Settings liegt eine gewisse Magie in Ihrem Film. War es Ihnen wichtig, sich nicht zu sehr an der Wirklichkeit zu orientieren?

Ja, meiner Meinung nach werden viel zu viele sozialrealistische Filme gedreht. Wir sollten versuchen, dahin zurückzukehren, was Filme so großartig und besonders macht, nämlich nicht die Nacherzählung der Realität, sondern ihre Verzerrung oder Verzauberung. Für mich ist das eine der wesentlichsten Bedingungen fürs Filmemachen überhaupt.

Der Titel des Films wurde ein paar Mal geändert, am Ende blieb es bei ARMAND. Warum waren Sie unsicher?

Ich habe über so viele verschiedene Titel nachgedacht, aber jetzt bin ich ziemlich zufrieden mit ARMAND. Ich finde es schön, dass der Film den Titel der Figur trägt, die wir eigentlich nie sehen. Vor allem, weil das auch einen entscheidenden Punkt in der Geschichte veranschaulicht: Am Anfang steht die Aussage eines Jungen, aber je länger darüber geredet wird, desto mehr werden die Fakten von irgendwelchen Vorurteilen, Traumata oder persönlichen Sichtweisen überlagert, bis es überhaupt nicht mehr um den konkreten Vorfall geht - oder um Armand.

Das Gespräch führte Pamela Jahn

Pamela Jahn