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Interview

„Von meinem Balkon aus hatte ich Sicht auf einen etwas verwitterten Tennisplatz.“

Interview mit Jan-Ole Gerster über ISLANDS

Jan Ole Gerster gewann mit OH BOY (2012), seinem Abschlussfilm von der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) über den jungen Drifter Niko (Tom Schilling), der in Berlin einfach nur mal in Ruhe einen Kaffee trinken möchte, gleich sechsmal den Deutschen Filmpreis, und auch sein zweiter Film LARA (2019) mit Corinna Harfouch als enttäuschte Ex-Pianistin erhielt den Deutschen Filmpreis für den Besten Film. ISLANDS ist Gersters erste europäische Koproduktion und wurde soeben wieder für die Lola nominiert.

Für INDIEKINO sprach Pamela Jahn mit Jan-Ole Gerster.

Ich mag die Idee, dass sich eine Art neuer europäischer Film zu entwickeln scheint.

INDIEKINO: Herr Gerster, wie ist Ihr eigener Aufschlag?

Jan-Ole Gerster: Leider gerade nicht so gut. Ich liebe Tennis, vor zwei Jahren war ich auch noch mal richtig in Form und habe das beste Tennis seit meiner Jugend gespielt. Aber momentan komme ich leider nicht oft genug auf den Platz. Ich bin etwas eingerostet und muss mich erstmal wieder etwas in Form bringen. Das Verletzungsrisiko beim Tennis ab einem gewissen Alter ist nicht zu unterschätzen.

Sie haben Ihr Regiedebüt OH BOY 2012 gedreht. Seit Ihrem zweiten Film LARA sind auch schon wieder sechs Jahre vergangen. Woran liegt es, dass Sie so lange Pausen machen?

Es hatte mit einer Reihe von Dingen zu tun. Die Finanzierung hat viel Zeit in Anspruch genommen, aber auch der Castingprozess hat diesmal sehr lange gedauert. Um Schauspieler, Drehorte und den wettertechnisch idealen Zeitraum unter einen Hut zu bekommen, mussten wir den Dreh zudem ein halbes Jahr schieben. Und so ziehen dann die Monate und Jahre ins Land. Zum Glück steht mein neues Projekt diesmal schon in den Startlöchern.

Warum soll das jetzt ein internationales Projekt sein?

Es ist vielleicht vielmehr ein europäisches Projekt. Mir gefällt die Idee, dass das europäische Kino nun wieder vermehrt länderübergreifend hervorragende Filme hervorbringt. Wir waren ein Team aus Briten, Spaniern und Deutschen. Ich wollte diesbezüglich auch meinen Horizont erweitern. Ich mag die Idee, dass sich eine Art neuer europäischer Film zu entwickeln scheint. Vor ein paar Jahren war es ja in unseren Breitengraden noch sehr verpönt, auf Englisch zu drehen. In Hollywood hat man das dann immer despektierlich „Euro Pudding“ genannt. Aber als überzeugter Europäer finde ich es ganz toll, wenn wir aus den verschiedenen Ländern die Talente zusammenbringen, um den eigenen Horizont zu erweitern. Ich hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, aber es lässt sich eben auch nicht auf jedes Projekt einfach so drüber stülpen. Mit dieser Geschichte fühlte es sich für mich irgendwie richtig an.

Was ist das Faszinierende an den Briten?

In Bezug auf meine britischen Schauspieler kann ich nur sagen, dass mich der Grad an Professionalität jeden Tag aufs Neue fasziniert und beeindruckt hat. Die Art der Auseinandersetzung mit der eigenen, aber auch mit allen anderen Figuren, der erzählerische Instinkt, das Timing, die Vorbereitung, Vielfalt, Flexibilität und der Umgang bei der Arbeit. Das alles war schon sehr, sehr toll.

War Fuerteventura die Insel Ihrer Wahl?

Für den Film, ja. Ich habe schon beim Schreiben des Drehbuchs die Handlung an Drehorte gelegt, die ich kannte und besucht habe. Als ich vor vielen Jahren das erste Mal auf Fuerteventura war, wusste ich sofort, dass ich dort einen Film drehen würde. Der Kontrast aus harschen, vulkanischen Landschaften, traumhaften Stränden und der in die Jahre gekommenen Urlaubsarchitektur erschien mir aus filmischer Sicht sehr reizvoll – genau wie die Farben und das Licht.

Ich fand es reizvoll, die Hauptfigur mit einer alternativen Version seines Lebens zu konfrontieren.

Gab es da auch so einen Tennislehrer wie Sam Rileys Tom?

Bei meiner ersten Reise nach Fuerteventura habe ich in einer Ferienanlage gewohnt, ähnlich der im Film. Von meinem Balkon aus hatte ich Sicht auf einen etwas verwitterten Tennisplatz. Der Belag war von der Sonne ausgeblichen, das Netz hing durch und der Zaun drumherum war von der salzigen Seeluft ganz rostig und kaputt. Und tatsächlich stand dort jeden Tag von früh bis spät ein braungebrannter Tennistrainer und hat unzählige Bälle übers Netz gespielt und seinen Klienten die immer gleichen Anweisungen gegeben: „Sieh den Ball an… ausholen… Sidestep… sehr gut!“. Das Ganze wirkte auf mich, wie eine Soundinstallation, die von der Monotonie seines Lebens erzählte. Jemand, der dort lebt, wo andere Urlaub machen und in einer scheinbar ausweglosen Alltagsroutine gefangen zu sein scheint. Dieser Trainer hat mich irgendwie fasziniert, natürlich auch in Hinblick auf eine spannende Filmfigur, und ich wollte ergründen, warum das so ist.

Zu welchem Ergebnis sind Sie bei Tom gekommen?

Alle meine Filme handeln von Figuren, die der Welt, in der sie leben, abhandengekommen sind, aber eine große Sehnsucht danach verspüren, am Leben teilzunehmen und in Kontakt mit ihrer Umwelt zu treten. Sowohl Oh Boy als auch Lara handeln von verpassten Chancen und der Tragik des ungenutzten Potentials. Bei Tom, der Hauptfigur in Islands ist es ähnlich. Ich glaube, was mich daran interessiert, ist die Angst vor einem Leben, das in Hinblick auf Träume, Sehnsüchte und Wünsche unerfüllt blieb. Das Einzige, was wir dem Tod entgegensetzten können, ist ein Leben, das in vollen Zügen gelebt wurde.

Hatten Sie in der Vergangenheit auch mal den Gedanken, im Leben falsch abgebogen zu sein? Vielleicht sogar auszusteigen aus dem Filmgeschäft, abzuhauen, so wie Tom?

Nein, eher umgekehrt. Das Filmemachen hilft mir, mich selbst zu verstehen, immer wieder zu mir selbst zurückzukehren. Ich empfinde den Prozess als kathartisch. Vielleicht dauert es auch deshalb so lange, weil ich extrem wählerisch bin mit den Sachen, die ich machen möchte, und eine starke persönliche Verbindung zu der Geschichte verspüren muss. Das klingt jetzt fast therapeutisch – ist es vielleicht auch.

Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihrer Karriere selbst im Weg zu stehen, mit der Art und Weise, wie Sie arbeiten?

Nein. Ich bin sehr zufrieden, wie die Dinge bisher gelaufen sind. Außerdem habe ich das Gefühl, das meine Karriere jetzt erst losgeht. Ich habe noch viel vor.

Schlägt ISLANDS auch inhaltlich wieder einen Bogen zurück zu OH BOY? Bedingen sich die beiden Filme in gewisser Weise gegenseitig?

Ja, schon. Niko und Tom sind Charaktere, die gerne unbequemen Entscheidungen aus dem Weg gehen und sich lieber treiben lassen, anstatt die Dinge zu gestalten. So lange, bis das Leben sie mit ihrer Handlungsverweigerung konfrontiert. Im Fall von Islands fand ich es reizvoll, die Hauptfigur mit einer alternativen Version seines Lebens zu konfrontieren. Durch die Begegnung mit einer Familie, die auf Fuerteventura Urlaub macht, erfährt er, wie sein Leben auch hätte verlaufen können, was es bedeutet Verantwortung für eine Familie zu übernehmen, Vater zu sein.

Im Kern handelt der Film von der Flucht vor der Wirklichkeit.

Die Geschichte spielt im Urlaub. Aber niemand hier hat wirklich Spaß oder ist glücklich. Wo liegt das Problem?

Die Geschichte spielt zu weiten Teilen in einer All-Inclusive-Ferienanlage und an den magischen Orten von Fuerteventura. Im Kern handelt der Film jedoch von Eskapismus, der Flucht vor der Wirklichkeit. Das passt zum einen gut zur Hauptfigur, einem Aussteiger, der im vermeintlichen Paradies lebt, sich aber permanent in Alkohol und gelegentliche Affären flüchtet, zum anderen empfinde ich Urlaub auch als etwas wie einen kurzzeitigen Eskapismus – eine Flucht aus dem Alltag. Tatsächlich sind die Hauptfiguren eher unglücklich und gebeutelt von einem anstrengenden, gleichförmigen Alltag. Doch für die Dauer einiger Tage erlauben sie sich, sich von all dem zu befreien und ihren unterdrückten Bedürfnissen und Sehnsüchten nachzugehen. Auch wenn am Ende jeder wieder in sein altes Leben zurückmuss.

Hat der Titel des Films eine tiefere Bedeutung für Sie?

Einerseits assoziieren wir mit dem Titel sicherlich den Drehort des Films – Fuerteventura, die Kanarischen Inseln. Die eigentliche Idee aber war, etwas über die Verlorenheit und Einsamkeit der Figuren zu erzählen. Als Gruppe stehen sie in gewisser Weise im Verhältnis zueinander und dennoch ist jeder für sich allein.

Das Gespräch führte Pamela Jahn.

Pamela Jahn