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Feature

Unsere Lieblingsfilme 2022

Die Redaktion blickt zurück

Wir haben unsere Autor*innen befragt, was für sie der beste Film des Jahres war und die Antworten hier für euch zusammengestellt. Eine Reihe der Filme lassen sich noch im Kino erwischen. Während der Cannes-Gewinner fehlt, finden sich unter den Antworten gleich drei Doppelnennungen. Der Multiversum-Martial Arts-Familienfilm der Daniels EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE, Uli Deckers persönlicher Dokumentarfilm ANIMA - DIE KLEIDER MEINES VATERS und der verträumte Stadtspaziergang WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN? von Alexandre Koberidze.

EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE

Mit EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE haben Daniel Kwan und Daniel Scheinert den besten erfolgreichsten (am Produktionsbudget gemessen) Film des Jahres gedreht, und gezeigt, was man aus einem einfachen Familienkonflikt alles machen kann. Mehr originelle Ideen hatte 2022 kein anderer Film. Außerdem ganz oben auf meiner Liste: VORTEX von Gaspar Noé und MEMORIA von Apichatpong Weerasethakul. (Tom Dorow)

Wenn zwei Leute beim Anblick eines Steines anfangen, laut zu kichern und es einer dritten Person nur mit den Worten: 'Du musst den Film sehen' erklären können, haben sie wohl EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE angeschaut. Mit Abstand der aufregendste und kreativste Film des Jahres. (Und in der Kategorie "Wiederaufführung": MULHOLLAND DRIVE. Ähnlich mindboggling, aber viel düsterer.) (Christian Klose)

WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN?

2014, Georgien. Es ist WM und selbst die Straßenkatzen sind beim Public Viewing. In Kutaissis verlieben sich Zwei und wachen als Andere auf. Absurd komisch führt Alexandre Koberidzes WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN? in eine magische Welt der Liebe, des Fußballs und des Kinos. Ein poetischer Blick auf das Leben in einer angespannten Region, der durch den Ukraine-Krieg eine beklemmende Aktualität erfährt. (Clarissa Lempp)

Der beste Film des Jahres? An manchen Tagen. An anderen: Spencer, Licorice Pizza, Kimi, Aheds Knie, Ambulance, A Hero, Wo in Paris die Sonne aufgeht, Lingui, The Northman, Vortex, Memoria, X, Zum Tod meiner Mutter, A E I O U, Elvis, Axiom, Grand Jeté, Nope, Atlantide, Moonage Daydream, Alle Reden über das Wetter, Amsterdam, Echo, Merkel, EO. Insgesamt: Ein sehr gutes Kinojahr. (Michael Meyns)

SHE SAID

Die Recherchen zu den Weinstein-Enthüllungen sind in SHE SAID so inszeniert, dass die Geschichte, deren Ende wir kennen, über zwei Stunden lang immer spannender wird. Ermächtigung durch viele kleine Schritte, konsequent in der Perspektive und angetrieben von großen Emotionen, die nie filmisch ausgestellt werden, sondern nach und nach ihre Kraft entfalten und in wirksames Handeln umgesetzt werden. (Susanne Stern)

LIEBE, D-MARK UND TOD

Was ein Ritt durch die deutsch-türkische Migrations-Musikgeschichte: LIEBE, D-MARK UND TOD sprüht nur so von der Dynamik einer unerkannten Musikszene, die sich seit den 60ern quasi im Untergrund entwickelte. Mit Musik, die von Zugehörigkeit und Identität erzählt, und großes Ohrwurmpotential hat; umspielt von Interviews, die ein Appell ans Miteinander sind. (Anna Hantelmann)

COME ON COME ON

Von der Schönheit des Lebens erzählt keiner so einfühlsam wie Mike Mills. Dankbarerweise durften wir ausgerechnet in diesem unschönen Jahr einen neuen Film von ihm erleben. COME ON, COME ON erzählt in ruhigen Dialogen und wunderschönen Schwarz-Weiß-Bildern von einer Annäherung und kann dabei auf zwei wundervolle Darsteller bauen. (Lars Tunçay)

CRIMES OF THE FUTURE

CRIMES OF THE FUTURE ist gleichzeitig nostalgisch und zukunftsweisend: Er schließt ästhetisch an den posthumanen Body-Horror an, mit dem Cronenberg in den 80ern bekannt wurde, aktualisiert ihn aber thematisch für die 2020er. Plastikfressende Mutant*innen und routiniert grenzenüberschreitende Performancekunst funktionieren als Retro-Unterhaltung und als Kommentar der spätkapitalistischen Gegenwart gleichermaßen. (Yorick Berta)

NOPE

Es sind vor allem einzelne Momente und Ideen aus NOPE, die sich mir eingebrannt haben. Die blöden Winkemännchen, die ebenso banal wie bedrohlich die Landschaft verschandeln. Die Wolke, die im Himmel hängt. Das Pferd in der Box im Angesicht der Unendlichkeit. Überhaupt immer wieder die Pferde. Der schmale Grad zwischen Humor und Tragik. Die Schäbigkeit und Transzendenz des Ganzen, letztendlich natürlich auch des Kinos. (Hendrike Bake)

UNRUH

Hopp Schwyz! In diesem Kino-Leuchtturm erzählt Cyril Schäublin das unbekannte Geschichtskapitel von Arbeiterinnen einer Uhrenfabrik, die anno 1877 vom internationalen Anarchismus schwärmen. Die Polit-Lovestory der poetischen Art entpuppt sich als visuelle Wundertüte voller Wow-Effekte. „Clockwork Surprise“! (Dieter Oßwald)

CORSAGE

Diese Sisi ist eine Wucht. Kaiserin Elisabeth schert sich nicht darum, sympathisch zu sein, und Vicky Krieps interpretiert ihre Exzentrik und Impulsivität mit viel Verve, Charme und Chuzpe. Marie Kreutzers Inszenierung nimmt sich dramaturgische und historische Freiheiten, ohne jemals bemüht zu wirken. CORSAGE changiert elegant zwischen melancholischem Understatement und Aufmüpfigkeit, und ist so aufregend und voller Leidenschaft wie die Frau, die da mit all ihrer Kraft gegen das höfische Establishment rebelliert. (Pamela Jahn)

AFTERSUN

An adult daughter looks back on a vacation with her youthful, divorced father that took place 20 years ago. The two of them had a loving relationship, but how much did the daughter really know about her parent? The many unknowns haunt her to this day. AFTERSUN is poignant meditation on parenting, growing up and the limitations of memory. (Elinor Lewy)

ACH, DU SCHEISSE!

Kleines Budget, großer Einfallsreichtum: FISCH FÜR DIE GEISEL: zwei Kleingangster und ihr Entführungsopfer in einem verlassenen Haus - und die lodernde Dynamik zwischen ihnen. ACH, DU SCHEISSE!: ein Gefangener im Dixieklo in einer Baugrube, die bald gesprengt wird. Zwei deutsche Genrefilme, die man erlebt haben muss! (Harald Mühlbeyer)

THE DROVER'S WIFE

Als Fan von australischen Western war THE DROVER’S WIFE für mich ein Highlight des vergangenen Jahres: Autorin und Regisseurin Leah Purcell, selbst Aborigine, schenkte dem Genre einen wichtigen Beitrag aus der Perspektive australischer Ureinwohner. Der Film zeigt die Grausamkeit der Weißen ebenso wie die Härte des Outbacks in faszinierenden Bildern, die unter die Haut gehen.(Eva Szulkowski)

ANIMA - DIE KLEIDER MEINES VATERS

ANIMA - DIE KLEIDER MEINES VATERS: Ich hatte meinen Freund Volker eingeladen, mit mir in diesen Film zu gehen, denn auch er hat erst mit über 50 den Mut gefasst, seine innere Frau auch im Außen zu zeigen. Volker trug Netzstrumpfhose, Kleid und Pelzkragen und während die Regisseurin vor uns ihre Familiengeschichte entrollte, liefen Volker die Tränen. (Susanne KIm)

Mit beeindruckender Offenheit, Empathie und Leichtigkeit erzählt Regisseurin Uli Decker, die bereits in ihrer Kindheit und Jugend in einem konservativen oberbayerischen Dorf mit starren Geschlechterrollen hadert, von einem aufwühlenden Familiengeheimnis, das sie erfährt, als ihr Vater im Sterben liegt: Er war Transvestit. Aus dokumentarischen Aufnahmen, den Tagebüchern ihres Vaters, Archivmaterial und fantasievoll animierten Fotos, die sie selbst als Piratin oder Päpstin zeigen, hat Uli Decker einen großartigen, mutigen und bewegenden Film geschaffen, in dem sie parallel die Lebenswege von Vater und Tochter in den Blick nimmt, dabei traditionelle Gendergrenzen hinterfragt – und ad absurdum führt. (Stefanie Borowsky)