Magazin für unabhängiges Kino

Filme

TOP GIRL & REMEDY

Sex und Ökonomie

Mit Ulrich Seidls IM KELLER, Cheyenne Picardos REMEDY und Tatjana Turanskyjs TOP GIRL ODER LA DÉFORMATION PROFESSIONELLE laufen zurzeit drei Filme im Kino, die sich auf ganz unterschiedliche Art mit privaten und käuflichen Sexfantasien beschäftigen. In Seidls Film wirken die SM-Paare, zwei private und ein professionelles, ausgestellt wie in ästhetisierten Rummelplatzschaubuden, die nur Leute mit Abitur besuchen dürfen - eine Art visuelles Slumming in filmischen Louboutins. Immerhin lässt Seidl seine Protagonisten reden, und gerade die Rede einer Masochistin, die nackt und gefesselt über ihre präzise Differenzierung zwischen erotischer Unterwerfung und einverständlichem Schmerz gegenüber Gewalt und Missbrauch spricht, zeigt, welches hohe Maß an Selbstreflexion ihre sexuelle Vorliebe erfordert.

REMEDY und TOP GIRL handeln beide von der kommerziellen Seite der SM-Szene, gehen aber mit völlig unterschiedlichen Perspektiven an das Thema heran. REMEDY-Regisseurin Cheyenne Picardo hat in New York als Switcherin in einem SM-Club gearbeitet, also sowohl auf der dominanten als auch der submissiven Seite. REMEDY ist ein autobiografischer Film über ihre Erfahrungen. Tatjana Turanskyjs TOP GIRL erinnert dagegen eher an das in den neunziger Jahren beliebte Diskurstheater von René Pollesch. Als zweiter Teil einer geplanten Trilogie über Frauen und Arbeit gibt es zwar einen Plot um Helena, eine arbeitslose Schauspielerin (Julia Hummer), die als Escort arbeitet und sexuelle Wünsche ihrer Kunden erfüllt, vor allem aber geht es um Material, Sätze und Thesen in betonter Künstlichkeit und häufig in parodistischer Verkehrung. Ein Vortrag über kosmetische Chirurgie wird mit postfeministischer Rhetorik so überwürzt, dass eine feministische Kritik an der Selbstoptimierung übrig bleibt. Beziehungen zwischen den Personen entstehen nur auf materieller Basis, es geht um Geld und Arbeit, wobei das Geld stets verdeckt in Umschlägen übergeben wird. Die sexuellen Phantasien der Männer verbinden sich fast immer mit Geschlechterrollentausch, so wie Judith Butler es vor Jahren als feministische Strategie vorgeschlagen hat. Männliche Unterwerfungsfantasien werden bei Turanskyj damit wieder zu Phantasien, in den Männer eine weibliche Position einnehmen und sich strukturell an einen Ort begeben, von dem aus sie wiederum über die Unterwerfung der Weiblichkeit fantasieren können, selbst, wenn sie formal die unterwürfige Position einnehmen. Unten steht immer das Girl, bis hin zur symbolischen oder realen Auslöschung. Ob TOP GIRL die Welt kennt, von der der Film erzählt, ist für das künstlerische Konzept letztlich unerheblich. Die Ökonomie löscht die weibliche Identität aus, Sexarbeit ist eine verschärfte Form der Ökonomisierung des Körpers, also löscht sie den Körper schneller aus. Die Figuren beschreiben Positionen, nicht Charaktere. Helena und ihre Mutter stehen für zwei Generationen falschen Bewusstseins, die Ältere, weil sie einem Ideal der Selbstverwirklichung folgt, das sich als marktkonforme Selbstzurichtung erweist, die Jüngere, weil sie die gnadenlose Ökonomisierung und Verdinglichung ihres Körpers verkennt und sich selbst für einen Player in einem Spiel hält, in dem sie nur eine Projektionsfläche und bestenfalls Agentin der Selbstauslöschung ist. Zwischen den Figuren entstehen keine persönlichen Beziehungen, sondern ausschließlich geschäftliche. Ein Thesenfilm, über den man reden kann und soll, der aber ästhetisch keine Abbildfunktionen mehr haben soll und dessen Bezug zu einer vorfilmischen, vor-konzeptuellen Wirklichkeit nur noch theoretisch und metaphorisch besteht.

Cheyenne Picardos Film REMEDYist das Gegenteil von TOP GIRL: eine filmische Autobiografie, die sich vor allem für die Beziehungen zwischen der Sexarbeiterin Remedy und ihren Kunden und für die damit verbundenen Gefühle interessiert. Remedy beginnt nicht aus finanzieller Not damit, zuerst als Domina, und dann als Sub zu arbeiten, sondern aus Interesse an der New Yorker BDSM-Szene und weil sie jemand herausgefordert hat: „Das könntest du nie“. In dem Club, in dem Remedy arbeitet, findet kein Geschlechtsverkehr statt. Prostitution ist in New York verboten, SM-Clubs sind offenbar erlaubt.
Das Problem ist hier nicht ein Mangel an Intensität in den Beziehungen, sondern ein Überschuss. Remedy wird nicht verletzt oder deformiert, aber ihre Erlebnisse bewegen sie so massiv, dass sie entscheidet, den Job aufzugeben. Cheyenne Picardo zeigt einige absurde Erlebnisse, wie die erste Session als Domina, bei der Remedy einem fiesen Typen eine Zahnbehandlung verpassen soll, und ihn stattdessen mit einer Fußmassage zum Einschlafen bewegt. Wichtiger aber sind andere Begegnungen, zum Beispiel die mit einem freundlichen Flagellanten, mit dem Remedy die Rollen tauscht und schließlich in einen freudigen Wettbewerb darüber einsteigt, wer am meisten Schläge aushält. Remedy mag die körperlichen Aspekte des Jobs, die psychischen setzen ihr mehr zu. „Extreme Demütigung“ bietet sie nicht an und sie zieht sich nie ganz aus, aber als ein Mann sie gefesselt vor sich tanzen lässt, beschäftigt sie die Szene noch lange nach der Session. Ob Remedy im entscheidenden Moment verletzt oder erregt ist, verrät der Film nicht. Es ist auch nicht wichtig. REMEDY erzählt von einem Überschuss an Intensität in den SM-Sessions, die sich im Alltag nicht ohne weiteres ausblenden lassen. Remedy und ihre Kunden kommen sich sehr nahe, aber diese Nähe in der Session enthüllt sich als Illusion. Picardo inszeniert den Film in einem direkten und improvisierten Stil, als dessen Vorbild sie Mike Leighs Filme und den in Deutschland mittlerweile nur noch als VHS-Kassette erhältlichen Film WORKING GIRLS (1986) der feministischen Avantgardistin Lizzie Borden bezeichnet (nicht zu verwechseln mit dem Melanie Griffith‘ Film WORKING GIRL von 1988). Die Schäbigkeit des SM-Ladens, in dem immer irgendwo ein Schrubber in der Ecke steht, und das eine oder andere Fesselgerät stets droht umzukippen, kontrastiert sie mit den spannungsvoll inszenierten Interaktionen zwischen den Personen. Picardo sagte über REMEDY: „Der Film sollte den Leuten in der Szene gerecht werden, Profis oder nicht. Ich musste das Gute und das Schlechte zeigen, ohne Sexarbeit oder das Konzept Kink-Sex zu verurteilen.“ Das ist ihr in diesem sehr persönlichen Film geglückt.

Tom Dorow

Tom Dorow