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Interview

„Tatsache ist doch, dass unser Leben aus einer Aneinanderreihung von Ungewissheiten besteht.“

Interview mit Carlos Reygadas über NUESTRO TIEMPO

Carlos Reygadas' Filme gehen Risiken ein. Sein Filmdebüt JAPÓN (2002) handelte von einem Mann, der versucht, sich das Leben zu nehmen. BATTLE IN HEAVEN (2005) war eine Meditation über Klassen, Schuld und Sühne, STELLET LICHT (2007) erzählte eine Dreiecksgeschichte in einer tiefreligiösen mennonitischen Gemeinde in Mexiko, und wurde auf Plautdietsch gedreht. Für das Ehedrama POST TENEBRAS LUX gewann Reygadas die Goldene Palme in Cannes. Pamela Jahn sprach mit Carlos Reygadas über dessen aktuellen Film NUESTRO TIEMPO.

INDIEKINO BERLIN: Herr Reygadas, Sie haben neben Ihrer Frau eine der Hauptrollen in NUESTRO TIEMPO selbst übernommen. Auch Ihre Kinder spielen mit. Inwieweit verändert die Einbeziehung Ihrer Familie den kreativen Prozess des Filmemachens?

Carlos Reygadas: Viel weniger als Ihre Frage impliziert. Wir wollten die Kinder aus praktischen Gründen bei den Dreharbeiten dabei haben. Außerdem ist es immer extrem anstrengend, mit fremden Kindern zu filmen, allein schon wegen der Eltern am Set. Und mit Natalia war es so, dass sie mir viel beim Casting geholfen hat, als ich nach einem Hauptdarsteller suchte. Sie hat beim Vorsprechen den weiblichen Part gelesen und nachdem ich lange keine Schauspielerin finden konnte, die mir gefiel, habe ich ihr die Rolle angeboten. Ich arbeite ja oft mit nichtprofessionellen Darstellern zusammen, also war auch das keine Besonderheit. Am Anfang hatte ich noch Bedenken, dass es eventuell problematisch für den Film sein könnte, dass wir damit zu nah an die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentarfilm treten würden. Aber dann habe ich mich damit beruhigt, dass nicht jeder, der den Film sieht, automatisch weiß, dass es sich um meine eigene Frau handelt. Sie wissen das, weil Sie recherchiert haben, aber für die Zuschauer ist die Tatsache zweitrangig. Nur mit meiner eigenen Rolle im Film habe ich mich zunächst tatsächlich schwer getan, weil ich befürchtete, die Zuschauer könnten unser Zusammenspiel als Ehepaar als eine Art Nachspielen der Wirklichkeit empfinden. Aber auch das ist natürlich Unsinn. Die Handlung, die Figuren, all das ist reine Fiktion.

Wird ein Film persönlicher, wenn man selbst darin agiert?

Nein, überhaupt nicht. STELLET LICHT ist der Film, dem ich mich am meisten verbunden fühle. Und dass, obwohl er auf Plautdietsch gedreht ist und von einer Dreiecksbeziehung innerhalb einer tiefreligiösen, mennonitischen Gemeinde in der mexikanischen Provinz handelt. Der Umstand, dass ich es bin, den man in NUESTRO TIEMPO sieht, dass ich meine eigenen Klamotten trage, dass man meine Stimme hört, all das macht den Film nicht persönlicher oder autobiografischer.

Wonach genau haben Sie in der weiblichen Figur gesucht?

Das ist eine gute Frage. Es ist, wie wenn man sich in jemanden verliebt, dann ist man ja auch wie geblendet. Und für gewöhnlich hat man wenig Einfluss darauf, in wen man sich verliebt. Selbst wenn man behauptet, man habe einen bestimmten Typ, man stehe auf Blondinen, Brünette, oder was weiß ich. Als ob man einen Roboter kreieren würde. Doch plötzlich sieht man jemanden, von dem man nie gedacht hätte, dass man sich in den oder diejenige verlieben würde, aber da ist es schon zu spät. Und so ist es bei mir mit den Schauspieler*innen. Ich weiß selten genau, wonach ich suche. Ich lasse mich einfach darauf ein. Das Entscheidende ist, dass ich eine Verbindung zwischen mir und dem oder der Darstellerin fühlen muss. Und unabhängig davon, dass sie meine Frau ist, habe ich diese Verbindung, auf die es mir ankommt, mit Natalia gespürt, als sie beim Casting die Rolle gelesen hat. Ich kannte sie als meine Frau, aber ich wusste nicht, dass sie die Schauspielerin war, nach der ich gesucht habe. Sie hat mich in der Hinsicht völlig überrumpelt.

"Ich versuche in meinen Filmen nicht verschiedene Versionen der eigentlichen Wahrheit durchzuspielen."

NUESTRO TIEMPO basiert erneut auf einer Dreiecksgeschichte. Dabei ist vor allem auch die Beziehung zwischen den beiden Männern spannend und mitunter sehr verwirrend.

Ich habe einen Bruder und wir verstehen uns gut, aber glauben Sie nicht, dass ich unsere Beziehung deshalb wirklich verstehen würde. Was ich damit sagen will, ist, dass im Leben auch nicht alles erklärt wird, warum sollte man es dann im Film tun. Wir kommen nicht gut mit Ambiguität klar, und das Kino oder die Entertainment-Industrie richten sich deshalb immer mehr darauf ein, Geschichten aufzutischen, die wenig Raum für Zweideutigkeiten oder Unklarheiten lassen. Aber Tatsache ist doch, dass unser Leben aus einer Aneinanderreihung von Ungewissheiten besteht. Alles ist verschwommen, nichts ist eindeutig. Noch nicht einmal unsere Beziehung zu uns selbst. Und Sie haben recht, die Beziehung im Film ist kompliziert, sie ist verworren. Was für ein Typ ist dieser Amerikaner? Ist er ein Opportunist? Was verbirgt sich hinter der Fassade? Ist er hinter Geld her, oder ging es ihm von Anfang an nur um die Frau? Hat er nur so getan als ob? Aber vielleicht ist es auch anders herum und die Frau benutzt ihn? Vielleicht ist er unschuldig und sucht in Juan nur nach einem Freund, einem Vertrauten? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich weiß es wirklich nicht. Und diese Offenheit der Interpretation ist es, worauf es mit ankommt.

Mit anderen Worten: Sie überlassen es den Zuschauer*innen, ihre eigenen Schlüsse aus dem Gesehenen zu ziehen.

Ja. Deshalb bin ich auch so ein großer Freund von Fotografie und Malerei. Denn das Bild präsentiert sich dem Betrachter gegenüber, ohne etwas zu erklären. Einfach so. Und manche Menschen reagieren darauf, was sie sehen, während andere der Anblick kalt lässt. Auch wenn sie noch so lange vor dem Bild stehen, seien es fünf Minuten oder drei Stunden, es macht einfach nichts mit ihnen. Trotzdem hängt das Gemälde weiter and der Wand und der nächste, der vorbei kommt, denkt vielleicht, es ist das tollste und überwältigendste Gemälde im ganzen Museum. Im Kino ist die Art und Weise der Betrachtung eine andere. Da erlauben wir uns diese Freiheit nicht, oder zumindest nur noch äußerst selten. Filme kommen heutzutage eher einer Zirkusvorstellung gleich. Denn wie im Zirkus, wo der Zirkusdirektor dafür sorgt, dass alle Attraktionen in der richtigen Folge präsentiert werden, wird auch im Kino dafür gesorgt, dass man alles sieht, und das alles immer größer, immer toller ist als beim letzten Mal. Ich persönlich halte davon wenig. Mich interessiert der Prozess des Betrachtens viel mehr als der des Erlebens. Zudem wird einem in der Kunst auch nicht vorgeschrieben, wie lange man ein Bild ansehen muss, bevor es Wirkung zeigt. Im Kino ist man auf die Dauer des Films angewiesen. Und das kann frustrierend sein oder befreiend, je nachdem, ob man bereit ist, in den Film einzusteigen oder nicht.

Bisher haben sich Ihre Filme immer in erster Linie mit existenziellen Fragen beschäftigt. In NUESTRO TIEMPO scheint dieser Ansatz eher zweitrangig, zumindest auf den ersten Blick.


Ich weiß, was Sie meinen, und ich denke, Sie haben recht. Auf den ersten Blick scheint klarer zu sein, worum es in dem Film geht. Andererseits gibt es auch hier jede Menge Unklarheiten, im Hinblick auf die verschiedenen Figurenkonstellationen, die Motive der einzelnen Charaktere. Natürlich geht es um ein Ehepaar und einen Amerikaner, der die Beziehung stört, aber das ist im Grunde auch schon alles, was sie definitiv über den Film sagen können. Der Rest bleibt jedem selbst überlassen. Nun bin ich nicht Hitchcock oder Kurosawa, ich versuche in meinen Filmen nicht verschiedene Versionen der eigentlichen Wahrheit durchzuspielen. Mit geht es einzig und allein um die Subjektivität der Erfahrung.

Sie haben an anderer Stelle über die Wichtigkeit des Rhythmus in Bezug auf ihre filmische Arbeit gesprochen. Wie definieren Sie Rhythmus im Film?


Wir sind darauf konditioniert, Rhythmus automatisch mit Musik zu assoziieren. Aber das meine ich nicht. Die Japaner wissen, dass Rhythmus alles bedeuten kann. Das Muster in Ihrem Kleid beispielsweise, oder die Tapete an der Wand. Rhythmus, das sind Geräusche, Dialoge, Räume, die Art und Weise, wie ein Schauspieler geht, wie er seine Stimme hebt oder senkt, wie er eine Tür öffnet oder schließt. All das gehört für mich dazu. Auch Architektur ist Rhythmus. Und es geht darum, in dem Rhythmus eine Balance zu finden, eine Harmonie. Für mich liegt das Wesen der Kunst im Rhythmus. Darum bin ich auch so ein großer Freund von Lyrik. Gedichte bringen das, was ich Ihnen gerade zu erklären versucht habe, auf den Punkt. Deshalb sind sie, wenn sie klug verfasst sind, auch so mächtig.

Inwieweit ändert sich der Rhythmus von Film zu Film?


Nicht nur von Film zu Film, auch innerhalb des Films kann der Rhythmus verschiedene Richtungen einschlagen. Darum gibt es Filme, die lang sind, aber einem viel kürzer vorkommen, und umgekehrt. Etwas, das langsam wirkt oder Geduld erfordert, muss nicht automatisch schlecht sein. Vielleicht liegt es nur am Rhythmus und im Nachhinein erscheint das gemächliche Tempo gerechtfertigt. Denn die Wirkung setzt erst ein, wenn der Film längst vorbei ist. In der Musik ist das nicht anders. Denken Sie nur an Wagner. An vielen Stellen fragt man sich, was ist das denn? Da gibt es quälend lange, musikalisch erdrückende Stellen, und doch kommt am Ende alles zu einem großen, gewaltigen Meisterwerk zusammen. Aber natürlich ist auch Wagner nicht jedermanns Sache, wie auch meine Filme nicht jedem gleich zugänglich sind. Das Urteil liegt wie bei allem im Auge des Betrachters.

Das Gespräch führte Pamela Jahn