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Interview

„Sie ist eine starke, intelligente und hartnäckige Frau aus der Arbeiterklasse“

Interview mit Jean-Paul Salomé über DIE GEWERKSCHAFTERIN

Jean-Paul Salomé begann seine Filmkarriere als Kameraassistent bei Claude Lelouch und drehte ab 1982 zunächst mehrere Dokumentarfilme, bevor er 1993 mit LES BRAQUEUSES seinen ersten Spielfilm realisierte. In Deutschland war zuerst 2020 ein Film von Salomé im Kino zu sehen: In der Komödie EINE FRAU MIT BERAUSCHENDEN TALENTEN (2020) spielt Isabelle Huppert die Übersetzerin Patience Portefeux, die eigentlich für die Polizei arbeitet, aber dann selbst in den Drogenhandel einsteigt. DIE GEWERKSCHAFTERIN drehte Salomé erneut mit Isabelle Huppert zusammen.

Thomas Abeltshauser hat sich mit Jean-Paul Salomé über DIE GEWERKSCHAFTERIN unterhalten.

INDIEKINO: Ihr Film basiert auf einem realen Fall, den Caroline Michel-Aguirre in dem Buch „La Syndicaliste“ aufgearbeitet hat. Maureen Kearney setzte sich als Gewerkschafterin für den Erhalt tausender Arbeitsplätze eines Atomkraftkonzerns ein und wurde Opfer einer bis heute ungeklärten Attacke. Was hat Sie daran gereizt
?

Jean-Paul Salomé: Tatsächlich fing es mit einem Tweet an, der in meiner Timeline auftauchte, in dem das Buch erwähnt wurde. Bei mir löste das gleich Neugier aus, ich wollte unbedingt mehr erfahren und besorgte mir den Band. Es ist das Ergebnis einer investigativen Recherche, die Autorin ist eine Journalistin. Die Geschichte war hochinteressant und dabei einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt. Auch ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nichts davon gehört. Maureen Kearney ist eine Whistleblowerin, dabei untypisch und ganz anders als die anderen. Als Gewerkschafterin war sie nicht nur beruflich großem Druck ausgesetzt, sie wurde auch Opfer sexualisierter Gewalt, und das in ihrem eigenen Haus.

Sie zeichnen Sie dabei als höchst ambivalente Figur, die schwer zu durchschauen ist. Inwieweit beruht das auf der Vorlage oder eigenen Recherchen?

Die Untersuchung hatte nichts Widersprüchliches, sie gibt die trockenen Fakten der Ereignisse wieder. Aber das war gar nicht, was mich interessierte. Ich hatte für die Rolle gleich an Isabelle Huppert gedacht, weil ich Ähnlichkeiten erkannte. Sie sagte sofort zu, obwohl noch gar kein Drehbuch existierte. Durch sie konnte ich diese Ambiguität transportieren, die Maureen bei den Männern in ihrem Umfeld auslöste. Diese Männer wollte ich nicht als Karikaturen zeigen. Und um ihr Verhalten und ihren Blick auf sie plausibel zu machen, musste sie etwas haben, aus dem sie nicht ganz schlau wurden. Dadurch versetze ich auch das Publikum in die Lage der Männer und spiele mit unbewussten Vorurteilen.

Wie gingen Sie dabei vor?

Im Buch wird zum Beispiel nüchtern beschrieben, wie Maureen beim Verhör bekennt, schuldig zu sein, und danach ins Auto steigt und in die Nacht hinausfährt. Mich interessierte aber, was in diesem Moment in ihrem Inneren vorgeht, ihre Emotionen. Warum tut sie das? Und wo fährt sie hin? Ich wollte verstehen, was sie in solchen Momenten empfunden hat, was ihr Mann und ihre Tochter durchgemacht haben. Ich habe diese Lücken, die das Buch auslässt, ausgemalt.

Welche Verantwortung haben Sie dabei als Filmemacher? Gab es Kontakt zu Maureen Kearney?

Den gab es, und ich habe ihr erklärt, dass der Film meine Vision ihrer Geschichte sein würde. Dass ich Situationen und Szenen erfinden würde, vor allem innerhalb der Familie, die aber auf dem basieren, wie wir sie wahrnehmen. Damit war sie einverstanden, wenn sie das Drehbuch vorab zu lesen bekam. Das war der Deal. Andere Szenen sind sehr authentisch, der Prozess etwa fast Wort für Wort. Und wir drehten an Originalschauplätzen, im Krankenhaus und Gericht, wo einige ehemalige Mitarbeiter der Firma sogar als Statisten auftraten.

"Es funktioniert nur durch großes Vertrauen auf beiden Seiten."

Warum hatte Ihrer Ansicht nach der Fall vor Erscheinen des Buches für so wenig Aufsehen gesorgt?

Es hatte ein paar Zeitungsartikel gegeben, aber die meisten Medien sind nie darauf angesprungen, und es verebbte dann schnell wieder. Ich vermute, das hatte auch politische Gründe, weil die Linke und die Rechte gleichermaßen involviert waren. Es begann, als Sarkozy an der Macht war, also die Konservativen, und zog sich hin, als der Sozialist Holland Präsident wurde. Kein Lager konnte die Geschichte nutzen, um den Gegner dafür verantwortlich zu machen und durch einen Skandal zu schädigen. Und so sprach und schrieb kaum jemand darüber.

Dies ist nach der Krimikomödie EINE FRAU MIT BERAUSCHENDEN TALENTEN der zweite Film, in dem Sie Isabelle Huppert in der Hauptrolle besetzen. Wie arbeiten Sie zusammen?

Es funktioniert nur durch großes Vertrauen auf beiden Seiten. Am letzten Drehtag unseres ersten Projekts sagte sie mir, sie wolle so schnell wie möglich noch einen Film mit mir machen. Wie könnte ich da nein sagen? Als Regisseur mit Isabelle Huppert zu arbeiten, ist eine sehr intensive Erfahrung, die ich mit keiner anderen Schauspielerin vergleichen kann. Als ich ihr das Buch zu lesen gab, forderte sie mich auf, daraus ein Drehbuch für sie zu entwickeln. Als Arbeitsgrundlage war es ein großes Geschenk, ihr diese Rolle auf den Leib zu schreiben. Die Vorbereitungen mit ihr sind besonders, weil sie die Szenen nicht proben will. Stattdessen haben wir lange Gespräche geführt und zusammen das Äußere der Rolle kreiert, die Kostüme, die blonde, stets akkurate Frisur, die Brille, das Make Up. All das funktionierte als eine Art Rüstung, unter der Isabelle ihre ganz eigene, ambivalente Figur entstehen lassen konnte.

Inwieweit ist Maureen Kearneys Fall symptomatisch für die Misogynie, mit der Frauen in Machtpositionen konfrontiert sind? Und sehen Sie Anzeichen, dass sich gerade etwas ändert in der französischen Gesellschaft?

Was wir im Film zeigen, fand 2012 statt. Das wirkt in Vielem wie eine andere Ära, heute sind wir sicherlich sensibilisierter. Aber ich fand es wichtig, an diese Zeit zu erinnern, es ist noch nicht so lange her. Aber ich sehe ihren Fall auch vielschichtiger. Maureen würde sich selbst nicht als Feministin bezeichnen. Sie ist eine Gewerkschafterin und sie kämpft für Arbeiter und Arbeiterinnen und den Erhalt von Jobs. Sie empfindet die Gewalttat vor allem auch als Angriff auf ihre berufliche Glaubwürdigkeit. Aber sie gibt nicht auf, sie kämpft weiter. Es ist nicht nur ungewöhnlich, dass eine Frau Gewerkschaftsführerin ist, sondern sie gehört auch einer anderen sozialen Schicht an, als die Manager und Politiker, mit denen sie zu tun hat. Anders als diese Männer in führenden Positionen war sie auf keiner der Eliteuniversitäten. Sie ist eine starke, intelligente und hartnäckige Frau aus der Arbeiterklasse, die es mit den Mächtigen aufnahm. Und dafür hat sie einen hohen Preis bezahlt.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser

Thomas Abeltshauser