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Feature

POLITIK, POP UND MEDIENKRITIK

RETROSPEKTIVE „WAHRSAGER IM FILM: PETER WATKINS“

Im Film THE BALLAD OF JOHN AND YOKO fragt ein Reporter John Lennon, ob ein bestimmtes Ereignis den Anstoß zu der Friedenskampagne von Lennon und Ono gegeben habe. Lennon antwortet: „Es hat sich eigentlich über die Jahre aufgebaut, aber was es richtig angestoßen hat, war ein Brief, den uns ein Typ geschrieben hat, der Peter Watkins heißt und einen Film mit dem Titel THE WAR GAME gemacht hat. (…) Er sagte: Leute in eurer Position haben die Verantwortung, die Medien für den Frieden in der Welt zu nutzen.“

Peter Watkins Filme und seine Persönlichkeit hatten einen gewaltigen Einfluss auf den Polit-Pop der letzten 50 Jahre, dabei ist Watkins Name kaum bekannt, und seine Filme waren – mindestens in Deutschland – kaum zu sehen. Die umfassende Peter Watkins-Retrospektive, die das Wolf Kino im Mai und Juni präsentiert, ist eine filmische Sensation, und das ist keine filmjournalistische Hyperbole, die überall Meisterwerke sieht.

Watkins bekanntester Film ist der im Auftrag der BBC entstandene, semi-dokumentarische Film THE WAR GAME (1965) über die Folgen eines Angriffs auf Großbritannien mit strategischen Atomwaffen. Der Film wurde durch direkte Intervention der britischen Regierung in Kooperation mit der BBC vor der Ausstrahlung verboten. Dieser Bruch der vorgeblich heiligen Regierungsunabhängigkeit der BBC wurde erst in den 90er Jahren enthüllt. BBC-Rundfunkräte und Regierungsangehörige, vom Kabinettssprecher bis zu Premierminister Harold Wilson, diskutierten in den sechziger Jahren nicht etwa über die Zensur des Films an sich. Es ging vor allem um die Frage, wie die Zensurmaßnahme möglichst schonend der Bevölkerung vermittelt werden konnte. Man einigte sich schließlich auf die Formulierung, der Film sei „zu entsetzlich“ für das Fernsehmedium. Aus Regierungsperspektive muss die Zensur von THE WAR GAME selbstverständlich erschienen sein. THE WAR GAME ist nicht weniger als ein Aufruf zum sofortigen Aufstand, ein durch und durch revolutionärer Film, der die Ungeheuerlichkeit der Existenz und der andauernden Produktion von Atomwaffen, die vollkommene Unzulänglichkeit der Zivilverteidigungspläne der britischen Regierung, die Dummheit und den Zynismus der Verantwortlichen offenlegte.

Watkins Filme produzieren einen erschreckenden Authentizitätseffekt

Die BBC hätte wissen können, worauf sie sich einließ. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Watkins in seinem Film CULLODEN (1964) die Schlacht von Culloden von 1746 zwischen den katholischen jakobitischen Rebellen und den Truppen der protestantischen englischen Armee und die Vernichtung der schottischen Kultur im darauf folgende Massaker an der Highlander-Bevölkerung re-inszeniert. Watkins drehte CULLODEN im Stil einer Nachrichtensendung, mit einem Off-Kommentar, Interviews mit verantwortlichen Militärführern und Fußsoldaten der gegnerischen Parteien, wobei seine Verachtung den Machthabern auf beiden Seiten galt, seine Empathie den eingezogenen und zum Kämpfen gezwungenen einfachen Soldaten. CULLODEN zeigt die direkten Folgen der ideologischen und ökonomischen Kriegs- und Herrschaftsmaschine, auf deren Grundlage Krieg geführt werden kann. THE WAR GAME übertrug die im historischen „Re-Enactment“ erprobte Technik auf ein realistisches Zukunftsszenario. Wie in CULLODEN zeigt Watkins viele extrem ausdrucksvolle traumatisierte Gesichter von Verwundeten, Sterbenden und überforderten Helfern, dargestellt von Laienschauspielern. Zwischen den Spielszenen demonstrieren Straßen-Interviews die vollkommene Unwissenheit der Bevölkerung über die Folgen eines Atomschlages. Authentische Zitate von Verantwortlichen aus Kirche und Politik wirken schockierend und zynisch.

Die pazifistische, herrschaftskritische Haltung von CULLODEN und THE WAR GAME war mitten im Kalten Krieg ungewöhnlich genug. Aber die Inszenierungstechnik der Filme zeigte auch, wie das bekannte Format von Nachrichtensendungen und Dokumentarfilmen manipuliert werden konnte. Watkins Filme produzieren einen erschreckenden Authentizitätseffekt, der aber ausschließlich durch die Inszenierung entsteht. Sie waren auch der Beginn der scharfen Medienkritik, die Watkins bis heute vorantreibt.

PRIVILEGE erwies sich ziemlich schnell als prophetisch

THE WAR GAME hatte 1965 schließlich einen kleinen Kinostart in den USA und gewann prompt den Oscar für den besten Dokumentarfilm. 1966 drehte Watkins seinen ersten Kinofilm, die Pop-Medien-Satire PRIVILEGE, mit Mod-Ikone Paul Jones, damals Sänger bei Manfred Mann, in der Hauptrolle als innerlich leerer Pop-Superstar Stephen Shorter, dessen Bühnen-Persona komplett von politischen und Marketing-Konzepten bestimmt ist. Zunächst ist sein Bühnen-Akt extrem gewalttätig. Shorter wird, als Teil der Inszenierung, auf der Bühne von Polizisten zusammengeschlagen, während er „Set Me Free“ singt, einen Song den Patti Smith später covern würde. Als Regierung, Kirche und Management beschließen, dass es Zeit für eine konservative Wende ist, wird Shorter zum ersten Pop-Messias. PRIVILEGE erwies sich ziemlich schnell als prophetisch. Mit dem ersten Album von The Stooges kam kurze Zeit später Blut und Gewalt auf die Bühne, David Bowies „Ziggy Stardust“-Figur wirkt wie direkt von Watkins Film inspiriert, und mit „Jesus Christ Superstar“ und „Godspell“ bedienten sich 1971 erstmals christlich-konservative Kreise der Popkultur, von den heute allgegenwärtigen Merchandising- und Mode-Linien von Popstars ganz zu schweigen. PRIVILEGE erhielt damals vernichtende Kritiken. Es war der letzte Film, den Watkins in Großbritannien drehte.

Für die Höhepunkte des Spätwerks von Watkins benötigt man einiges an Zeit

Die Retrospektive im Wolf-Kino zeigt auch Filme von Peter Watkins, die noch seltener zu sehen sind, Produktionen, die vor allem im Schweden in entstanden sind, wie GLADIATORERNA/THE GLADIATORS (1968); ein Sci-Fi-Film über tödliche Kriegsspiele als Kriegs- und Olympia-Ersatz; FÄLLAN/THE TRAP (1975) über das Leben in einem Bunker unter einer Atommüllhalde; 70’ERNES FOLK/THE SEVENTIES PEOPLE (1974) über die hohe Suizidrate im sozialdemokratischen Schweden; AFTENLANDET/EVENING LAND (1975) über Streiks, Polizeigewalt und die Geiselnahme eines Ministers.

Für die Höhepunkte des Spätwerks von Watkins benötigt man einiges an Zeit. Sein Film über EDVARD MUNCH (1973) und die Gesellschaft, die sein Werk prägte, lässt sich mit dreieinhalb Stunden noch locker an einem Abend bewältigen. Für FRITÄNKAREN/THE FREETHINKER (1992-1994, 276 min) über August Strindberg muss man schon zwei Abende einplanen. Das kollektive entstandenen Großwerk RESAN/THE JOURNEY (1987, 873 min) über globale Auswirkungen der Atomwaffentechnologie wird an fünf Abenden gezeigt, und Watkins letzter Film LA COMMUNE (Frankreich 1999, 375min.), auch eine Gemeinschaftsarbeit über die Pariser Kommune, nimmt immerhin einen Nachmittag und Abend in Anspruch. Zu allen Filmen gibt es bei der ersten Vorstellung eine Einführung von Filmemachern, Filmwissenschaftlerinnen und Filmjournalisten. Außerdem gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm mit einem Fokus auf Watkins Medienkritik und utopische Potentiale des Films, und einen Workshop zu Watkins theoretischem Begriff der „Monoform“, der vorherrschenden Kommunikationsform in Massenmedien. Eine gewaltige Menge an Hirnfutter, aber es lohnt sich.

Tom Dorow

5.5. – 30.6. wolfberlin.org