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Interview

„Phasenweise ist DOGMAN ja fast ein Stummfilm“

Interview mit Matteo Garrone über DOGMAN

Matteo Garrone war bereits 2004 mit seinem Film PRIMO AMORE im Wettbewerb der Berlinale vertreten, wirklich bekannt wurde er aber in Deutschland erst durch das beeindruckende Mafia-Drama GOMORRHA (2008) und den wilden Fantasy-Film DAS MÄRCHEN DER MÄRCHEN (2015). Mit DOGMAN kehrt Garrone zu dem Milieu und den Landschaften aus GOMORRHA zurück.


Herr Garrone, Ihr neuer Film DOGMAN basiert auf einer wahren Geschichte. Was reizte Sie daran, diesen Fall auf die Leinwand zu bringen?

Die Sache ereignete sich in Italien vor 30 Jahren, und man kennt sie vor allem wegen ihrer Grausamkeit. Rache und Folter, ziemlich makabre Folter sogar, sind die Hauptaspekte, die sich jedem eingeprägt haben, und man könnte problemlos einen Splatter-Film daraus machen. Aber darauf hatte ich natürlich gar keine Lust. Was ich am spannendsten fand, war die Psychologie in dieser Geschichte, die psychische Gewalt – und eben dieser eigentlich alles andere als brutale Mann in ihrem Zentrum.

Wobei Ihr Protagonist aber eben doch kein Unschuldslamm ist...

Stimmt, aber zunächst einmal ist da seine Menschlichkeit. Gewalt ist für ihn ein Weg zum Überleben, nicht Teil seiner Persönlichkeit und schon gar nicht Mittel zur Rache. Er ist naiv, aber er sehnt sich auch nach Respekt. Ihm würde ein Wort der Entschuldigung zur Konfliktlösung reichen. Aber wenn das Gegenüber eine andere Sprache spricht, die Sprache der Gewalt, dann geht das eben nicht. Plötzlich steckt man mitten drin in diesem Mechanismus, wie eine Fliege in einem Spinnennetz.

Würden Sie trotzdem sagen, dass die Gewalt zwingend zur menschlichen Natur gehört?

Sie gehört auf jeden Fall untrennbar zu unser aller Leben, denken Sie nicht? Schauen Sie sich doch um. Wir sitzen hier in Cannes und reden über Filme, während rund um den Festivalpalast Männer mit Maschinengewehren patrouillieren. Da haben wir es doch.

Andererseits sagten Sie eben mit Blick auf DOGMAN, dass Gewalt ursprünglich nicht Teil von Marcellos Persönlichkeit ist.

Ich glaube nicht, dass es eine generelle, eine einfache Antwort darauf gibt, wo und wie Gewalt entsteht. Das hat mit der menschlichen Natur genauso viel zu tun wie mit den Umständen, in denen jemand aufwächst. Oder auch mit dem Zufall. Manchmal ist man einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Im Fall von Marcello ist es sicherlich so, dass er im Grunde einfach nur sein Leben leben und glücklich sein will. Vieles, was dann schief läuft, sind äußere Einflüsse. Gleichzeitig macht er aber natürlich auch selbst Fehler und trifft falsche Entscheidungen. Mir ging es mit DOGMAN darum, diese Facetten in den Film und diese Figur einfließen zu lassen. Ich wollte nie von oben auf ihn herabblicken, sondern die ganze Zeit Seite an Seite mit ihm sein.

Wie würden Sie Marcellos Beziehung zu Simone, dem prügelnden Tyrannen der Nachbarschaft, beschreiben?

Eines der Schlüsselworte ist sicherlich Angst. Marcello ist, wie schon gesagt, ein einfacher, in jedem Sinne kleiner Kerl, der seine Tochter retten möchte und sich ansonsten bemüht, sein Leben und seinen Hundesalon gegen die Brutalität von außen zu schützen. Er hat Angst davor, sein Leben zu verlieren, vor anderen Menschen, aber auch vor Simone. Und gleichzeitig ist er natürlich auch fasziniert von ihm, denn der ist groß und stark und mutig, also alles, was Marcello selbst nicht ist. Außerdem ist er Furcht einflößend.

Ist dieser Simone auch als Metapher zu verstehen, als Bild des starken Mannes, das zum Beispiel die italienischen Wähler zuletzt überzeugt zu haben scheint?

Die Deutung überlasse ich Ihnen. Aber auf jeden Fall ist das keine italienische Sache. Der Geist des rechten Extremismus weht ja gerade durch fast alle westlichen Länder.

Lassen Sie uns ein wenig über das Setting von DOGMAN sprechen...

Dieses Dorf, in dem der Film spielt, erinnert mich an einen Western. Die Location ist fester Bestandteil der Geschichte, vielleicht sogar eine eigene Figur in ihr. Vielleicht hätte man eine ähnliche Story auch über einen Mann in einer Großstadt erzählen können. Aber mir war es wichtig, dass sie sich in einem kleinen Dorf ereignet, in dem jeder jeden kennt. Das macht das Gefühl der Isolation, dieses Ausgeschlossensein aus der Gemeinschaft, das Marcello plötzlich erlebt, so viel größer. Deswegen bin ich an den Ort zurückgekehrt, an dem ich auch schon GOMORRHA und L’IMBALSAMATORE gedreht habe.

Wie hat sich dieser Ort verändert?

Er verfällt immer mehr. Aber ich finde es dort wunderschön, und für die Geschichte ist er perfekt. Wir haben nur hier und da Kleinigkeiten verändert, den Spielplatz zum Beispiel, ansonsten haben wir Marcellos Ladengeschäft gestaltet und den Laden nebenan. Das war’s aber auch schon. Die Farben und das Licht dort sind unglaublich. Ich glaube, dieser Ort liebt mich, denn jedes Mal wenn ich dort drehe, ist das Licht perfekt. Auch mit dem Wetter hatte ich Glück, was nicht selbstverständlich ist, schließlich habe ich in chronologischer Reihenfolge gedreht. Am Anfang schien die Sonne, und als Marcello aus dem Gefängnis kam, fing es an zu regnen. Bis zum Ende des Drehs hörte es nicht mehr auf. Klingt grau und traurig, war aber genau das, was ich für die Atmosphäre brauchte.

Wie haben Sie diesen Ort damals eigentlich entdeckt? Denn aufgewachsen sind Sie ja eigentlich in Rom, nicht wahr?

Das ist richtig. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ein Freund aus Neapel mich zum ersten Mal dorthin mitnahm. Dieses verlassene Dorf wurde in den Siebzigern für die amerikanischen Soldaten und ihre Familien, die damals in der NATO-Basis stationiert waren, gebaut. Alle meine Freunde, die damals dort oder in der Nähe wohnten, fühlten sich wie im Paradies, denn plötzlich mischte sich neapolitanische Kultur mit amerikanischer. Und vor der Tür das wunderschöne Meer.

Wie konnte es mit dem Ort so bergab gehen?

In den späten Neunzigern errichteten die Amerikaner eine neue Basis, 30 Kilometer entfernt. Also machte in der Mini-US-Stadt alles zu, und das Dorf wurde immer weiter verlassen. Seit einiger Zeit soll dort eigentlich ein neuer Hafen entstehen, doch der Besitzer des Ortes verweigert seine Zustimmung. Er würde selbst gerne einen Hafen bauen, hat aber nicht die finanziellen Mittel. Im Moment sind da immer mal wieder zwei oder drei Bauarbeiter, die ein bisschen was arbeiten, damit es so aussieht, als würde das Projekt vorankommen. So kann er die Konkurrenz blockieren. Aber lange Rede, kurzer Sinn: Im Grunde steht dort alles still, was die Sache für Dreharbeiten ideal macht.

Welche Funktion haben die Hunde im Film für Sie?

Zum einen spielen die Hunde visuell eine wichtige Rolle für mich. Ich habe sie immer als eine Art Theaterpublikum betrachtet, das aus nächster Nähe mitansieht, was Marcello passiert. Sie sind die unmittelbaren Zeugen der Brutalität. Aber zum anderen waren die Hunde natürlich auch ein Weg um zu zeigen, was für ein liebevoller Mensch Marcello ist. Ich habe ihn immer ein wenig als modernen Buster Keaton gesehen und phasenweise ist DOGMAN ja auch fast ein Stummfilm. Wenn sie alle gleichzeitig fressen oder er die Hunde massiert – das sind Momente der Leichtigkeit, die einen notwendigen Kontrast vor allem zur zweiten Hälfte des Films darstellen.

Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie den Film chronologisch gedreht haben, was sonst ja eher unüblich ist. Warum war Ihnen das wichtig?

Ich mache das so oft ich kann, einfach um konsequenter sein zu können in der Entwicklung meiner Figuren. Für DOGMAN haben wir vor Drehbeginn zwei bis drei Monate mit den Schauspielern geprobt, alles bis auf den Schluss des Films. Während des Drehs zeichnete sich dann ab, dass Marcello so wie wir ihn entwickelt hatten, zu gewissen Dingen, die ich im Drehbuch ursprünglich für das Finale vorgesehen hatte, nie fähig sein würde. Also haben wir einen anderen Weg eingeschlagen. Aber das geht eben nur, wenn man Schritt für Schritt den Weg mit der Figur mitgeht und nicht zum Beispiel die letzte Szene des Films als erstes dreht.

Gewinnt DOGMAN auch dadurch seine besondere emotionale Wucht?

Ich würde sagen ja, denn die Struktur eines Films ist natürlich für seine Wirkung essentiell. Und auch wenn das jetzt sehr unfein und vor allem unbescheiden von mir ist, würde ich doch sagen, dass mir die Sache in diesem Fall besonders gut gelungen ist. Alles ist sehr schlicht gehalten, keine Szene ist überflüssig. Was nicht heißt, dass alles bis ins kleinste Detail durchgeplant war. Im Gegenteil war es mir nach meiner bislang größten Produktion DAS MÄRCHEN DER MÄRCHEN besonders wichtig, wieder zurück zur Freiheit meiner ganz frühen Filme zu finden und sogar zwischendurch mal selbst mein eigener Kameramann zu sein.

Ist die Gestaltung eines Films umso wichtiger, je reduzierter die Geschichte ist?

Wahrscheinlich kann man das so sagen. Zumindest leuchtet es mir als jemandem, der von der Malerei kommt, ein, dass die Bildsprache, die Farben und all diese Dinge für das Endergebnis oft wichtiger sind als der eigentliche Gegenstand. Denken Sie an van Goghs „Sonnenblumen“. Worüber wir heute sprechen, ist ja nicht die Tatsache, dass er sich für diese Art von Blumen entschieden hat, sondern die Art und Weise, wie er sie gemalt hat.

Apropos Malerei: Wie hat es Sie eigentlich von dort zum Film verschlagen?

Mit dem Malen habe ich schon in jungen Jahren angefangen. Ich ging auf ein Kunst-Gymnasium und erst einmal habe ich diesen Weg zielstrebig verfolgt. Porträtmalerei war meine Spezialität, und mit der Zeit fing ich an, mich für den Blick durch die Kamera zu interessieren. Irgendwann beschloss ich, einfach mal selbst einen Kurzfilm zu drehen. Das war Mitte der Neunziger Jahre, und damals rief Nanni Moretti gerade in Rom das Filmfestival für Kurzfilme ins Leben. Aus 700 Einreichungen wählte er 20 Filme aus – und einer davon war meiner. Als ich sogar einen Preis gewann, war für mich klar, dass ich meine neue Berufung gefunden hatte.

Interview: Patrick Heidmann