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Interview

"Mir fehlten Geschichten über diesen Moment, wenn man bereit ist, wegzugehen."

Interview mit Klaudia Reynicke zu ihrem Film REINAS

1992 in Lima, Peru. Die politische und wirtschaftliche Lage ist instabil, immer wieder kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Elena (Jimena Lindo) will mit ihren Töchtern, Teenagerin Aurora (Luana Vega) und der ein paar Jahre jüngeren Lucia (Abril Gjurinovic), in die USA ausreisen. Doch dazu braucht sie die Unterschrift des Vaters der Mädchen, der plötzlich wieder in das Leben der drei tritt. Je mehr Zeit Aurora und Lucia mit Carlos (Gonzalo Molina) verbringen, desto weniger möchten die beiden ihre gewohnte Umgebung, Freund*innen und Familie zurücklassen.

Mit Abschieden und Neuanfängen hat auch Filmemacherin und Co-Drehbuchautorin Klaudia Reynicke Erfahrung: Sie wuchs in Peru, der Schweiz und den USA auf und studierte u. a. an der Tisch School of the Arts in New York. Stefanie Borowsky hat sich mit ihr über ihren Film REINAS unterhalten, den sie als Europapremiere auf der Berlinale 2024 in der Sektion Generation vorstellte und für den sie den Großen Preis der Internationalen Jury für den Besten Spielfilm Kplus gewann.

Jede Figur hat ihren eigenen Willen.

INDIEKINO: Ihr Film hat mir sehr gut gefallen. Leider kommen ja nicht viele Filme aus Peru in Deutschland ins Kino. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diesen Film zu machen?

Klaudia Reynicke: Als ich zehn Jahre alt war, habe ich Peru mit meiner Mutter und meinem Stiefvater wegen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation verlassen. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis, mich wieder mit meinem Land und meinen Wurzeln zu verbinden, denn ich bin jetzt natürlich erwachsen und habe selbst Kinder. Ich hatte das Gefühl, dass ich diese Identität wiederfinden musste, denn ich bin auch Schweizerin geworden und ich habe sehr lange in den Vereinigten Staaten gelebt, wo fast meine ganze peruanische Familie lebt. Es gab also ein ganz ursprüngliches Bedürfnis für den Film. Dann ging es natürlich darum, eine Geschichte über eine Familie zu erzählen und darüber, wie kompliziert die Liebe ist. Das war es, was mich dazu brachte, diese sehr einfache Geschichte zu kreieren - aber einfach ist komplex. Jede Figur hat ihren eigenen Willen. Ich würde sagen, dass REINAS nicht genau meine Geschichte ist, weil wir alles mit meinem Co-Autor Diego Vega umgeschrieben haben, aber es gibt viele Ähnlichkeiten zu meinem Leben, und alle Gefühle, die darin vorkommen, kenne ich.

Ich fand es sehr interessant, dass Sie sich für so viele Frauenfiguren entschieden haben. Die beiden Mädchen sind die Protagonistinnen, aber es gibt auch noch die Mutter und die Großmutter. War es für Sie besonders wichtig, sich auf Frauen zu konzentrieren und diese starken weiblichen Charaktere zu erschaffen?

Schauen Sie, ich bin eine Frau, also ist es für mich überhaupt nicht schwierig, andere Frauen zu erschaffen. Wir haben einen männlichen Protagonisten, der die Hauptfigur des Films ist, nämlich den Vater. Und dann haben wir natürlich die beiden jungen Mädchen, die so etwas wie die Hauptprotagonistinnen sind. Ich würde einfach sagen, dass ich nicht darüber nachdenke, ob ich mehr Frauen einbauen soll oder nicht. Es ergibt sich einfach von selbst, denn ich bin eine Filmemacherin. Ich hätte keine Probleme damit, die Geschichte eines Mannes zu erzählen, aber es fällt mir einfach leichter und ist organischer, Geschichten aus meiner Perspektive zu erzählen. Deshalb brauchen wir mehr Filmemacherinnen - weil wir mehr Filme aus der Perspektive von Frauen brauchen.

Sie leben nicht mehr in Peru ...

Ich lebe nicht mehr in Peru. Ich bin eigentlich zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten, Florida, aufgewachsen, wo meine Mutter und meine Großmutter noch immer leben. Aber dieses Projekt hat mich als Erwachsene und auch als Berufstätige wieder mit Peru und meinem Land in Verbindung gebracht. Es war das größte Geschenk, mit Leuten aus meinem Land, aber auch mit Leuten aus der Schweiz und mit Leuten aus Spanien zusammenarbeiten zu können. Wir waren einfach eine sehr nette, internationale Truppe.

Die Geschichte spielt in den frühen 1990er Jahren. Das war vermutlich die Zeit, in der Sie dort lebten.

Ganz genau. Damals bin ich weggegangen, und ich wollte in die Zeit zurückkehren, in der ich das Land verlassen hatte. Ich war also während des Films in den 90er-Jahren und außerhalb des Drehs im Jahr 2023.

Wie haben Sie die heutige Situation in Peru wahrgenommen? Gibt es dort viele Filmemacherinnen?

Es gibt Filmemacherinnen aus Peru, es gibt Claudia Llosa, es gibt Melina León. Es gibt hier internationale Namen. Offensichtlich ist die Filmindustrie in Peru noch im Wachstum. Die Finanzierung ist noch nicht ganz ausgereift. Es ist also schwieriger, nicht nur für Frauen, sondern für jeden, der Filme machen will, vor allem, wenn man keine Koproduktionen hat, wie ich sie hatte. Ich hatte das Glück, mit zwei Ländern zu arbeiten, die uns mehr Funding zur Verfügung gestellt haben. Aber peruanische Filme ... Wenn sie nur mit staatlichen Geldern Filme drehen müssen, ist es sehr schwierig.

Ich bin Peruanerin, aber auch Schweizerin, und so kann ich mich irgendwie nicht ganz von meinen Wurzeln lösen.

Es gibt Szenen in Ihrem Film, in denen Sie die damalige politische Situation in Peru verdeutlichen und auch Gewalt zeigen, z. B. die Szene im Polizeiauto, in der sich der Polizist gegenüber dem älteren Mädchen, Aurora, unangemessen und in sexualisierter Weise übergriffig verhält. Warum war Ihnen diese Szene wichtig?

Ich denke, es ist etwas, das vielen, vielen Frauen passiert ist. Besonders wenn man jung ist, möchte man manchmal einfach frei sein, einfach tragen, was man will. Und leider können wir das nicht, denn solche Situationen passieren ständig, und auch das ist eine Art Realität. Deshalb war es wichtig, darüber zu sprechen, wie schrecklich es sein kann, sich in einer solchen Situation zu befinden, mit der sich, glaube ich, jede Frau identifizieren kann.

Die beiden Mädchen sind in verschiedenen Altersgruppen, Aurora ist ein Teenager und Lucia ein paar Jahre jünger, noch in der Grundschule.

Unsere Idee war es, diese verschiedenen Altersgruppen zu haben. Einmal ein junges Mädchen von zehn, elf Jahren, das seine Mutter noch braucht, das einfach nur in der Nähe seiner Mutter sein will. Wenn man 14 ist, sind die Freund*innen das, was man will. Und vielleicht hat man einen Freund oder eine Freundin oder was auch immer, man ist einfach radikal anders. Und dann haben wir natürlich noch die Meinung der Erwachsenen über die Situation in diesem Land. Wir wollten über diese Geschichte mit verschiedenen Figuren sprechen, natürlich auch mit unserem männlichen Protagonisten des Herzens, Carlos, um zu zeigen, wie schwierig es für jedes Alter ist, diesen Fast-Weggang zu durchleben, und wie abhängig vom jeweiligen Alter und Kontext. Dies ist ein Film, der nicht über die Immigration spricht, sondern über die Zeit direkt vor der Einwanderung. Mir fehlten Geschichten über diesen Moment, der so intensiv ist, wenn man bereit ist, wegzugehen, irgendwohin zu gehen. Man weiß, dass man noch hier ist, aber der Kopf ist nicht mehr hier, er ist dort, und das Herz ist in der Vergangenheit, weil man weiß, was man zurücklassen wird. Es ist schwierig, das in Szene zu setzen, weil man niemanden hat, der wirklich weggeht. Ich denke, es hat ziemlich gut funktioniert, besonders mit meinen tollen Schauspieler*innen.

Das ältere Mädchen, Aurora, denkt, dass sie schwanger sei. Es gibt auch diese Teenager*innen-Ebene im Film.

Aurora merkt, dass sie gar nicht schwanger ist, aber dann merkt die Mutter, dass sie Sex hatte, was bedeutet, dass sie es nicht einmal wusste. Und die Kleine, Lucia, die ist eine Verräterin, aber man versteht sie. Sie ist eine sehr niedliche Verräterin. Ich glaube, das Kino, das ich mag, ist ein Kino, in dem ich das Gefühl habe, dass all meine Figuren Fehler machen können. Ich glaube nicht an Schwarz und Weiß. Ich glaube nicht an den bösen und den guten Charakter, weil ich dann das Interesse verliere. Ich liebe es, wenn es eine Figur gibt, die sehr kompliziert und komplex ist, aber man plötzlich an ihr hängt. Und ich liebe es, wenn man denkt, dass man die gute Person, die reine Person haben kann, und am Ende ist sie dann ganz ... Also, mehr Realismus in diesem Sinne.

Deshalb hat mir der Vater Carlos sehr gefallen, weil er so eine komplexe Figur ist. Er wirkt sympathisch, aber man weiß nie, ob er wirklich unterschreiben wird oder ob er etwas anderes im Sinn hat. Das war sehr gut geschrieben.

Vielen Dank. Als ich Gonzalo Molina getroffen habe, der die Rolle des Carlos spielt, war es sehr wichtig, was er in diese Figur eingebracht hat. Carlos, ich meine Gonzalo, ist jemand, der sehr großzügig ist, und er hat dieses ganz besondere Leuchten. Ich denke, dass das, was er als Substanz in den Film einbringen konnte, Carlos so charismatisch gemacht hat.

Wir treffen uns hier gerade auf der Berlinale. Sie präsentieren Ihren Film in der Sektion Generation. Haben Sie schon viele Reaktionen von jungen Menschen auf den Film bekommen? Was soll das junge Publikum aus Ihrem Film mitnehmen?

Gestern bei der Vorführung war ich erstaunt, denn wir hatten ein volles Haus im Miriam Makeba Auditorium. Ich konnte nicht glauben, dass es ein volles Haus war. Und die Reaktion des Publikums, als wir den Film sahen, war wirklich überwältigend. Sie haben gelacht, und irgendwann konnte man sehen, dass die Leute geweint haben. Es war großartig und überwältigend zu sehen, wie die Jugend auf eine Geschichte reagiert hat, von der ich nicht weiß, ob sie wirklich für eine junge Zielgruppe bestimmt war. Besonders toll war es für meine jungen Schauspielerinnen, denn sie durften Autogramme geben. Das war so süß! Wir hatten beim Sundance Weltpremiere im Wettbewerb und es war eher ein Ort für Erwachsene, das war fantastisch, absolut unglaublich. Aber es hat diese andere Art von Magie mit sich gebracht, hier auf diesem Festival in der Sektion Generation zu sein.

War es das erste Mal, dass die beiden Mädchen in einem Film mitgespielt haben?

Oh ja. Sie haben vorher noch nie in einem anderen Film mitgespielt. Sie sind so talentiert.

Und sie kommen beide aus Peru?

Sie sind beide aus Peru, aber Abril Gjurinovic, die Lucia spielt, lebt eigentlich mit ihrer Mutter in Belgien. Ihre Geschichte ähnelt also ein bisschen der Geschichte von Lucia, sobald sie weggeht. Abril konnte sich also tatsächlich sehr mit Lucia im Film identifizieren.

Planen Sie schon ein neues Projekt? Werden wir Peru in Ihren Filmen wiedersehen?

Hoffentlich, ja. Ich schreibe gerade an einem anderen Projekt. Darin wird es auch um Familie gehen, aber es wird ein bisschen anders sein. Ich bin Peruanerin, aber auch Schweizerin, und so kann ich mich irgendwie nicht ganz von meinen Wurzeln lösen.

Das Gespräch führte Stefanie Borowsky.

Stefanie Borowsky