
Interview
„Menschen werden allzu leicht als „Flüchtlinge“ abstempelt. Das ist so ein Schlagwort, damit ist alles gesagt.“
Interview mit Yasemin Şamdereli über SAMIA
Die Regisseurin und Drehbuchautorin Yasemin Şamdereli wurde 1973 in Dortmund geboren, studierte Film an der HFF München und arbeitete zunächst als Medienpädagogin, Produktionsassistentin und Lektorin. Für das Fernsehen drehte sie ALLES GETÜRKT (2002) und ICH CHEF DU NIX (2007). Ihr Kinodebüt ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND (2011) erzählte die Geschichte einer türkischen Familie, die als „Gastarbeiter“ nach Deutschland kommt über mehrere Generationen und wurde unter anderem mit dem Deutschen Filmpreis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Fast immer schreibt sie die Drehbücher zu ihren Filmen gemeinsam mit ihrer Schwester Nesrin Şamdereli, so auch bei ihrem neuen Film SAMIA. Pamela Jahn hat sich mit Yasemin Şamdereli über SAMIA unterhalten.
INDIEKINO: Frau Şamdereli, in Ihrem neuen Film erzählen Sie die Geschichte der somalischen Leichtathletin Samia Yusuf Omar. Mit welchen Gefühlen sind Sie an die Geschichte herangegangen?
Yasemin Şamdereli: Es war eine Mischung aus verschiedenen Emotionen, Gedanken, Erinnerungen. Da kam vieles zusammen. SAMIA ist bis jetzt mein komplexester Film. Als ich zum ersten Mal von der Geschichte erfuhr, erzählte ich sofort meiner Schwester Nesrin davon, mit der ich sehr eng zusammenarbeite. Wir redeten darüber, was Samias Geschichte mit uns als Menschen macht, aber auch als Frauen, weil es natürlich auch etwas damit zu tun hat, wie wir Frauen in manchen Kulturen wahrgenommen werden, und wie andere für uns entscheiden wollen, was unser Weg ist. Zwar haben wir persönlich keine allzu negativen Erfahrungen in der Hinsicht machen müssen, aber durch unseren türkisch-kurdischen Hintergrund kennen wir diese Kulturen sehr gut, in denen das passiert.
Wie war das bei Ihnen?
Wir sind muslimisch aufgewachsen, aber wir kennen auch die tolerante Seite. Nicht jeder Moslem legt den Islam so aus, dass das Kopftuch Pflicht ist. Es gibt so viele tolle, aufgeschlossene muslimische Männer, muslimische Frauen, bei denen das nicht so ist. Und wir wollten eine Familie zeigen, wie wir sie auch kennen. Menschen, die kein Problem damit haben, dass Frauen selbstbewusst und eigenverantwortlich handeln.
Warum ging Ihnen speziell Samias Schicksal so nah?
Weil sie von klein auf für sich entschieden hatte, ihren Weg zu gehen. Der erste Schritt zur Selbstständigkeit ist das Aufstehen. In dem Moment entscheidet ein kleiner Mensch, dahin gehe ich, das schaue ich mir an. Ich war kurz davor selber Mutter geworden, und dieser Augenblick, in dem sich ein Kind aufrichtet und lernt, auf zwei Beinen zu stehen, hat mich unheimlich fasziniert. Ich dachte, Wahnsinn, so ist das im Leben. Damit fängt alles an.
Gleichzeitig endet ihr Leben unfassbar tragisch.
Deshalb wollte ich die Geschichte auch unbedingt erzählen, in ihrer ganzen, leider grauenvollen Dramatik. Es war nach ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND das Projekt, wo mein ganzes Herzblut drinsteckte. Ich habe mich gefragt: Wie kann das sein, dass ein 17-jähriges Mädchen aus Mogadischu an den Olympischen Spielen teilnimmt und vier Jahre später im Mittelmeer ertrinkt? Das darf nicht sein. Und es sollte keinem Menschen passieren. Niemand sollte diese Flucht machen müssen. Niemand sollte ertrinken. Punkt.
Warum drehen die Menschen, um die es geht, diese Filme nicht selbst?
Ihr Film basiert auf dem Roman „Mit Träumen im Herzen“ von Giuseppe Catozzella. Inwieweit unterscheidet sich das Drehbuch von der literarischen Vorlage?
Der Roman arbeitet anders. Giuseppes Erzählung fängt in der Kindheit an und verläuft chronologisch. Er ist im Kopf von Samia, in ihren Gedanken. Dadurch kann er ganz andere Dinge zum Ausdruck bringen als das, was filmisch möglich ist. Ich wollte zum Beispiel nicht die ganze Zeit mit Voice-Over arbeiten. Und wir wussten, wir haben maximal zwei Stunden für einen Kinofilm. In der Zeit wird man keinem Leben gerecht.
Worauf haben Sie besonders Wert gelegt?
Für uns war es wichtig, Akzente zu setzen. Der Flüchtlingsaspekt war entscheidend, wie die Geschichte endet. Aber auch diese Verflechtung mit ihrer Kindheit, die Dynamik und Offenheit, die darin zum Ausdruck kommt. Die starke Bindung zwischen Vater und Tochter. Wir wollten diese Beziehung als etwas wirklich Unterstützendes darstellen und einen Mann zeigen, der keinen Unterschied zwischen seinen Kindern, den Mädchen und den Jungen, sieht. Dazu kam, dass wir aufgrund der Sicherheitslage nicht in Somalia drehen konnten, aber alles sollte so authentisch wie möglich sein. Dazu brauchte ich eine Sparringspartnerin. Bei der Recherche und den Dreharbeiten wurde ich von der Somalierin Deka Mohamed Osman unterstützt.
Hatten Sie Bedenken, einen Film nicht in der eigenen Kultur zu drehen?
Wenn sie Zweifel meinen, nein, die hatte ich nicht. Ich wollte Samias Geschichte nur unbedingt so wahrheitsgemäß wie möglich erzählen. Ich finde es gut und richtig, dass wir heutzutage darüber reden, was das Wort „authentisch“ überhaupt meint. Warum machen weiße Menschen Filme über Schwarze? Warum drehen die Menschen, um die es geht, diese Filme nicht selbst? Es ist sehr, sehr wichtig, dass diese Fragen in der Öffentlichkeit gestellt werden, und ich persönlich habe sie mir genauso auch gestellt. Nur zu dem Zeitpunkt, 2017, gab es einfach nicht sehr viele somalische Filmemacher und niemanden, der oder die ein derart komplexes Projekt allein hätte umsetzen können. Mittlerweile sind es mehr. Zum Glück.
Bei der Besetzung sah es sicher nicht viel anders aus?
Viele von ihnen sind zum ersten Mal dabei. Wir mussten uns wirklich auf die Suche nach somalischen Schauspielern machen. Das war eine große Herausforderung, denn es gibt eine riesige Diaspora auf der ganzen Welt. Schon allein deshalb war Dekas Arbeit so wichtig, damit die Menschen eine direkte Bezugsperson hatten, jemanden, der die Kultur versteht und ihre Sprache spricht. Viele von ihnen hatten Angst, falsch dargestellt zu werden. Wir haben also versucht, so viele Details und so viel Aufmerksamkeit wie möglich hineinzulegen. Es war ein akribischer, aber unglaublich bereichernder Prozess.
Mir war ganz wichtig, die Tragödie nicht in den Vordergrund zu stellen
Es gibt eine Szene im Film, in der Samias Vater sinngemäß zu seiner kleinen Tochter sagt: „Unser ganzes Leben ist ein Traum, manchmal ein Alptraum. Aber alles, was wir haben, sind unsere Träume.“ Sehen Sie das auch so?
Ja, ich glaube, je älter wir werden, desto dünner wird die Realität, desto dünner werden diese Behauptungen: Was ist real, was ist nicht real? Und ich bin fest davon überzeugt, dass großartige Dinge auf einer anderen Ebene entstehen. Unsere Wünsche, Ziele, Hoffnungen, das sind alles imaginäre Wahrheiten, die sehr feinstofflich sind. Ohne Träume gäbe es keine Kunst, keine Geschichten, keine Zukunft.
Dass Sie einmal Filmemacherin werden würden, war sicher auch keine Selbstverständlichkeit. War es immer Ihr Traum?
Ich hatte das große Glück, mit Eltern aufgewachsen zu sein, die mich immer unterstützt haben. Oder besser: Wir hatten das große Glück, denn ich habe zwei Geschwister. Meine Mutter und mein Vater kamen beide aus ärmlichen Verhältnissen. Für sie war Deutschland das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, frei nach dem Motto: Hier könnt ihr aus eurem Leben machen, was ihr wollt. Ich muss gestehen, im ersten Moment war ich ziemlich schockiert darüber, dass die Eltern meiner deutschen Schulkameradinnen in der Hinsicht weniger offen waren. Wenn da jemand Talent zum Schreiben hatte, hieß es: „Werd‘ erstmal Sekretärin, lerne etwas Handfestes, einen „richtigen“ Beruf.“
Wann war Ihnen klar, dass Sie Regisseurin werden wollten?
Mit 15 oder 16, da gab es einen Moment, als mir bewusst wurde, Filme werden gemacht, Geschichten werden erzählt, und dahinter sind Menschen, die sich das ausdenken, die das drehen, die dieses Handwerk beherrschen. Danach gab es für mich nichts anderes mehr. Ich erinnere mich noch, wie ich zu meiner Mutter sagte: „Ich möchte Regisseurin werden.“ Sie wollte wissen, was das ist und was eine Regisseurin macht. Als ich es ihr erklärt hatte, war ihr einziger Kommentar: „Ja, gut, wenn es das ist, was du willst, dann machst du das.“
Nun gibt es mittlerweile relativ viele Filme, die ähnliche Flüchtlingsgeschichten erzählen. Die wenigsten gehen gut aus. Was wollten Sie in Ihrem Film in der Hinsicht unbedingt vermeiden?
Mir war ganz wichtig, die Tragödie nicht in den Vordergrund zu stellen. Ich wollte Samias Vorgeschichte zeigen, das Positive. Ich finde es problematisch, wenn man alle Menschen über einen Kamm schert, die sich dazu entschließen, ihr Heimatland zu verlassen. Sie werden allzu leicht als „Flüchtlinge“ abstempelt. Das ist so ein Schlagwort, damit ist alles gesagt. Und natürlich macht sich niemand auf diesen Weg, wenn er nicht ernsthafte Gründe hat. Überlebenswichtige Gründe. Aber gleichzeitig lässt Samia auch schöne Dinge hinter sich, und wir wollen den Film mit einer gewissen Leichtigkeit füllen. Wir wollten so viel Liebe, so viel Charme, so viel Humor wie möglich reinpacken. Denn das gehörte zu ihrem Leben dazu. Vor allem ihre Familie. Es ging uns darum zu zeigen: Die streiten genauso wie wir alle, die lieben genauso. Und die wollen auch nur, dass ihre Kinder eine Zukunft haben. Das muss man verstehen.
Warum haben Sie sich auf Samias Zeit im libyschen Gefängnis konzentriert, um die beiden Geschichten miteinander zu verbinden?
Wir hätten viele Dinge wählen können, aber ein Aspekt, den wir wirklich hervorheben wollten, ist, dass sie zu einem der Flüchtlinge wurde. Sie wurde eine Person ohne Gesicht - eine Figur. Deshalb dachte ich, dass dies eine starke Art und Weise ist, die Geschichte zu erzählen und die Frage in den Raum zu stellen: „Wie kann eine junge, talentierte Athletin, die an den Olympischen Spielen teilgenommen hat, in einer solchen Situation enden?“ Es ist schwer zu begreifen, aber es ist die Realität.
Das Gespräch führte Pamela Jahn.
Pamela Jahn