Magazin für unabhängiges Kino

Interview, Feature

„Keine Gewalt ist doch auch keine Lösung“

Interview mit Julia von Heinz zu UND MORGEN DIE GANZE WELT

Julia von Heinz‘ Regiearbeiten umfassen Arthouse-Filme wie ihr Langfilmdebüt WAS AM ENDE ZÄHLT (2007) um eine jugendliche Ausreißerin und HANNAS REISE (2014), der von einer jungen Frau erzählt, die aus Karrieregründen einen Friedensdienst in Israel ableistet, ebenso wie die Mainstream-Produktionen HANNI UND NANNI 2 (2011) und ICH BIN DANN MAL WEG (2015). Seit 2020 ist sie Ko-Leiterin des Studiengangs Regie Kino- und Fernsehfilm der HFF München. Ähnlich wie die Protagonistin in UND MORGEN DIE GANZE WELT hat von Heinz zu Beginn ihrer Karriere Jura studiert und war 10 Jahre lang in der Antifa aktiv.

INDIEKINO: Ursprünglich sollte die Geschichte von UND MORGEN DIE GANZE WELT in der 90er Jahren spielen. Was hat Sie dazu bewogen, den Stoff in die Gegenwart zu verlegen?


Julia von Heinz: Die Geschichte von einer jungen Frau, die in der linken Szene vor die Gewaltfrage gestellt wird, war im Kern schon seit 20 Jahren in meinem Kopf. Ich habe mich dem Thema zunächst dokumentarisch genähert und alte Weggefährten und Genossen porträtiert. Dann ha be ich mir aus dieser Erfahrung heraus gesagt: Das muss ich fiktiv verarbeiten und habe vor sechs, sieben Jahren einen historischen Stoff für die 90er Jahre geschrieben. Ungefähr 2015 kam dann mit dem Erstarken der AfD viel in Bewegung. Der Rechtsextremismus kam mehr aus der Mitte der Gesellschaft, und die Verbrechen von Nazis wurden immer mörderischer. Für mich machte es ab da keinen Sinn mehr, das Thema als historischen Stoff zu verhandeln.

Was hat sich Ihrer Meinung nach in den letzten 30 Jahren verändert?

Die Verstrickungen zwischen staatlichen Organen und rechten Strukturen sind scheinbar noch enger geworden. Jeden Tag erfahren wir mehr Einzelheiten. Dass eine AfD in der Innenstadt Stände aufstellen kann, dass die Plakate im Wahlkampf überall sichtbar waren, das wäre in den 90er Jahren so nicht möglich gewesen. Die Republikaner mussten ihre Plakate immer ganz hoch hängen, weil sie sonst abgerissen wurden. Scheinbar erträgt man heute den Anblick der AfD-Parolen. Für die Antifa kann ich aus meiner Erfahrung sagen, dass wir damals versucht haben, das Ganze stärker zu organisieren. Wir haben die Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation gegründet und versucht, eine gut organisierte, professionell vernetzte politische Stimme zu werden. Heute ist Antifa zum Glück etwas ganz Offenes geworden. Die Antifa-Fahne kann jeder schwenken, die Omas gegen Rechts, die großartige Arbeit machen, ebenso wie die Jugendlichen auf dem Land, die sagen: Wir sind die Antifa. Es haben heute auch viel mehr Themen Platz in der linken Community.

In Ihrem Film scheint der gewaltsame Aktionismus fest in Männerhand – auch Luisa muss sich da erst reindrängeln. Im Hintergrund sieht man aber, wie es eigentlich die Frauen sind, die das Netzwerk zusammenhalten.


Ich erzähle natürlich auch aus meinem eigenen Erleben heraus, und in einer Bewegung, in der Militanz eine Rolle spielt, sind patriarchale Strukturen stärker. Das hat vielleicht auch mit Körperlichkeit zu tun, damit, wer beim Kickboxtraining wie gut ist. Es hat auch damit zu tun, dass Gewalt auszuüben aus meiner Erfahrung auf Männer eine andere Faszination ausübt als auf Frauen. Ich erinnere mich daran, dass wir Mädels uns in bestimmten Situationen untereinander darüber ausgetauscht haben, dass wir Angst hatten. Aber es hat sich keine getraut, etwas zu sagen. Bei den Männern war diese Angst nicht zu spüren. Der Zusammenhalt unter Frauen ist in linken Strukturen stark, weil aus feministischer Sicht alles, was nach Zickenkrieg oder Konkurrenz um Männer aussah, bewusst abgelehnt wird. Deshalb war es mir wichtig, diesen Zusammenhalt zu zeigen, den ich im echten Leben manchmal noch vermisse.

In einem Interview nennen Sie als filmische Vorbilder drei Regisseurinnen: Andrea Arnold, Susanne Bier, Margarete von Trotta. Verorten Sie sich bewusst in einem feministischen Kanon
?

Ich könnte auch starke männliche Vorbilder nennen, aber gerade für diesen Film fand ich diese Regisseurinnen stimmig, denn in ihren Filmen sind auch oft Frauen im Zentrum, und zwar gerade nicht „starke Frauen“ – das ist ein Begriff, den ich nicht mehr hören kann – sondern komplexe Frauen, die vielleicht mal einen Moment lang stark sind, in einem anderen Moment aber zweifelnd und suchend.

Luisa/Mala ist in jeder Einstellung zu sehen, es ist zu 100% ihre Geschichte. Trotzdem scheint es mir manchmal so als seien Lenor und Batte, also die zweite Reihe, die wahren Held:innen des Films.

Wir haben uns für eine filmische Ich-Erzählung entschieden. Es gibt keinen allwissenden Erzähler, der alles sieht, sondern wir sehen immer nur, was Luisa sieht und natürlich ihre Reaktionen darauf – wie in einem Ego-Shooter-Spiel. Für Kamerafrau Daniela Knapp war das eine große Herausforderung – sie musste quasi mit Mala zu einer Person verschmelzen. Das war eine Entscheidung, um möglichst viele Zuschauer in den Kopf der Figur hineinzubringen. Batte, Lenor, Alfa und Dietmar stehen für unterschiedliche Haltungen zum Thema Gewalt als Reaktion auf die Rechten. Wie verhalten wir uns? Gibt es ein richtiges Leben im Falschen? Es ist wichtig, dass wir diesen vier Figuren begegnen, weil ich glaube, dass wir als Zuschauer ihnen zu unterschiedlichen Zeiten recht geben, mir geht es zumindest so.

In einer der eindrücklichsten Szenen des Films geht Luisa alleine auf ein Hoffest der Nazis. Dort spielt einer der Anführer ein Lied, das von ferne wie ein Volkslied klingt, bis man die menschenverachtenden Textzeilen hört. Das Lied gibt es tatsächlich. Was hat Sie bewogen, es im Film zu verwenden?

Ich glaube, dass es einem manchmal noch leichtfällt, das Ganze beiseite zu wischen und zu denken: Ist ja nicht so schlimm, das haben wir doch alles im Griff. Ich habe nach einer Szene gesucht, in der die Unmenschlichkeit wirklich zum Ausdruck kommt, in der diese erstmal normal aussehenden Mitbürger diese mörderischen Texte singen, die eben nicht wir als Filmemacher uns ausgedacht haben. Wir ziehen uns ja manchmal bequem auf Positionen wie „Gewalt ist keine Lösung“ und „Gewalt erzeugt Gegengewalt“ zurück. Vielleicht entsteht, wenn wir diese Szene gemeinsam mit Luisa erleben, die fast wie ein Geist durch die Veranstaltung geht, das Gefühl: Moment mal, keine Gewalt ist doch auch keine Lösung, das kann man doch so nicht geschehen lassen! Es ist auf keinen Fall so, dass ich Gewalt gutheiße, aber ich glaube, wir müssen darüber reden, wie weit wir die Demokratie von Rechts gefährden lassen wollen.

Hendrike Bake