Feature, Interview
„Im Kino geht es um Geschichten, und ich habe die Geschichten.“
Shahrbanoo Sadat zu KABUL KINDERHEIM
Die Regisseurin und Drehbuchautorin Shahrbanoo Sadat (31) lebte bis zu ihrem 11. Lebensjahr als Flüchtling im Iran, ehe sie mit ihren Eltern in deren abgelegenes Bergdorf in Zentralafghanistan zurückkehrte. In Kabul und Paris wurde sie zur Filmemacherin. Die Machtübernahme der Taliban zwang sie zur Flucht - nach Berlin. Für ihr Langfilmdebüt WOLF AND SHEEP (2016) erhielt sie den Art Cinema Award in Cannes. Mit Eva Szulkowski sprach Sadat über ihren neuen Film KABUL KINDERHEIM, über ihr Verhältnis zum Kino und die Zukunft Afghanistans.
INDIEKINO: KABUL KINDERHEIM ist der zweite von fünf Filmen, die Sie basierend auf der unveröffentlichten Autobiografie von Anwar Hashimi drehen wollen.
Shahrbanoo Sadat: Als ich vor fast 12 Jahren zum ersten Mal Anwars Text gelesen habe, war ich sehr erstaunt, denn er ist kein Schriftsteller. Sein Text war sehr ehrlich, poetisch, politisch, persönlich, alles in einem. Ich war sehr bewegt, denn er sprach nicht nur über sein eigenes Leben, sondern auch über die Geschichte des Landes. Für mich war es das erste Mal, dass ich etwas darüber lernen konnte. Das ist in meiner Generation sehr üblich: Wir sind, wie der Rest der Welt, von all den aktuellen Ereignissen so eingenommen, dass wir alle nur einige Stichworte über Afghanistan kennen. Es ist auch nicht einfach, die Realität in Büchern und Texten von afghanischen Autoren zu finden – die sind oft parteiisch. Es war das erste Mal, dass ich etwas las, mit dem ich mich wirklich verbunden fühlte.
Man erkennt in KABUL KINDERHEIM heute deutliche Parallelen zu den Geschehnissen in Afghanistan in diesem Jahr. Haben Sie während der Entstehung des Films auch an die Zukunft gedacht?
Ja, absolut. Als ich an der Geschichte arbeitete, war ich so ergriffen von all den Ähnlichkeiten: Man musste nur Mudschaheddin durch die Taliban ersetzen und die Sowjets durch Amerika. Ab 1979, in den 80ern und Anfang der 90er Jahre, herrschte 13 Jahre lang afghanisch-sowjetischer Krieg in Afghanistan. Kabul aber war dieser friedliche Ort – wenn man nur die Terroranschläge ignorierte, die manchmal passierten. So war es auch in meiner Zeit dort. Hier lebte die Mittelschicht, Frauen hatten viel mehr Freiheiten und junge Leute schufen sich hier eine Blase: Auf Partys gehen, Dating, Social Media und so weiter. Sie taten so, als lebten sie nicht in einem Kriegsland, sondern wie andere junge Menschen in anderen Teilen der Welt. Während ich recherchierte, dachte ich: Das ist genau so, wie Taliban jetzt manchmal Terroranschläge in Kabul verüben - sie haben viel mehr Macht in den Provinzen, aber ihr Ziel ist es, Kabul einzunehmen, und vielleicht wird das eines Tages auch passieren. Die Geschichte Afghanistans, vor allem im letzten Jahrhundert, ist wie ein Kreis: Alle zwei Jahrzehnte gehen wir an den gleichen Ort zurück, an dem wir waren, es fühlt sich einfach so an, als wären wir in einer Schleife.
In KABUL KINDERHEIM spielen Kinofilme eine wichtige Rolle. Konnten Sie als Kind auch ins Kino gehen?
Ich wurde in eine konservative und religiöse Familie hineingeboren. Jede Art von Kunst und Musik war in unserem Haus verboten. Selbst bei der Hochzeit meiner älteren Schwester brauchte es einen sehr langen Streit mit meinem Vater, bis er meinem Bruder erlaubte, sich von seinem Freund zwei Stunden lang ein Tonbandgerät auszuleihen. Ich war 10 Jahre alt, und das war das erste Mal, dass ich ein Tonbandgerät startete und Musik hörte – das einzige Mal. 2008, als ich 18 war, bin ich nach Kabul gezogen, und da wollte ich so gerne Physik studieren…
Physik?
Ja, ich habe mich schon immer für Physik interessiert - vielleicht wegen des religiösen Hintergrunds meiner Familie, weil die Wissenschaft in gewisser Weise sagt, dass Religion Quatsch ist - das ist zumindest heute meine Analyse. Als ich nach Kabul ging, musste ich eine Ausrede für mich finden, um dort zu bleiben. Aber ich wusste nicht, wie die Dinge in dieser großen Stadt funktionieren, deshalb habe ich nicht die Prüfung der Naturwissenschaftlichen Fakultät gemacht, sondern für Kunst, Kino, Theater. Gleichzeitig fand ich meinen ersten Job beim beliebtesten Fernsehsender, Tolo TV, als Produzentin für eine Kochshow. In der Kaffeepause traf ich dann Anwar, der für die Nachrichten arbeitete. Und ich nahm an einem französischen Dokumentarfilm-Workshop teil, der uns Grundlagen des Dokumentarfilms vermittelte, mit Fokus auf Cinema Verité/Direct Cinema. Da bin ich diesem Kino total verfallen und drehte meinen ersten kurzen Dokumentarfilm. Im nächsten Jahr googelte ich etwas übers Filmemachen, und landete durch Zufall auf der Website der Filmfestspiele von Cannes. Ich bewarb mich für die Script Residency und wurde eingeladen, viereinhalb Monate in Paris zu verbringen, um mein Projekt zu entwickeln. Und dort betrat ich 2010, mit 20 Jahren, zum ersten Mal ein richtiges Kino – die Cinematèque in Paris.
Wow. Das ist ja nicht bloß irgendein Kino!
Genau! Diese drei Monate im Workshop sind bis heute der einzige akademische Hintergrund, den ich im Film habe, aber sie waren so wichtig für mich. Ein Teil meiner Klassenkameraden war so verliebt in die Regisseure, die großen Autoren und Filme – ich hatte nie dieses Gefühl, weil ich nicht mit Filmen und Filmgeschichte aufgewachsen bin. Ich habe die Filmemacher, deren Filme wir dort schauten, bewundert. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich genau solche Filme machen möchte. Obwohl ich nichts übers Filmemachen wusste, hatte ich Selbstvertrauen. Es war meine größte Entdeckung in diesem Workshop: Im Kino geht es um Geschichten, und ich habe die Geschichten.
Werden die Menschen in Afghanistan jetzt noch Filme sehen können? Und werden afghanische Künstler*innen wie Sie, die jetzt im Exil leben, ihre Kunst mit ihrem Publikum in Afghanistan teilen können?
Na ja, es sind nicht mehr die 90er. Auch wenn es öffentlich nicht erlaubt ist: Alle haben Internet und sind mit der Außenwelt verbunden. Mehr als 70 % der afghanischen Bevölkerung sind junge Leute unter 25, ich glaube nicht, dass die Taliban sie isolieren können. Viele Künstler haben jetzt das Land verlassen. Wenn ich der Situation etwas Positives abgewinnen will: Meiner Meinung nach ist das ganz gut so. Es gab diese Kulturmafia in Afghanistan, die es sehr schwer machte – um überhaupt als Künstler anerkannt zu werden, musste man Mitglied in diesem Club sein. Aber jetzt, wo viele Kulturschaffenden in andere Länder evakuiert wurden, sehe ich ein großes Potenzial. So sind zum Beispiel 270 Kulturschaffende gerade nach Frankreich emigriert – Schriftsteller, Maler, Filmemacher. Ich hoffe daher, dass es in den nächsten 10 oder 15 Jahren einen großen Wandel gibt.
Das Gespräch führte Eva Szulkowski