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Interview

"Ich wollte, dass sich die Liebe echt anfühlt."

Interview mit Céline Sciamma über PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN

Die Filme der französischen Regisseurin, Drehbuchautorin und feministischen Aktivistin – Sciamma ist Mitglied in der 5050 by 2020-Bewegung, die sich für Parität in der Filmwirtschaft einsetzt – sind zart im Umgang mit ihren Figuren, künstlerisch im Umgang mit den filmischen Mitteln, lebensnah und politisch. Sciamma ist Autorin des Animationsfilms MEIN LEBEN ALS ZUCCHINI (2016), Ko-Autorin von André Techinés BEING 17 und Regisseurin des vielfach ausgezeichneten GIRLHOOD. Am bekanntesten ist sie in Deutschland vermutlich für ihren zweiten Spielfilm TOMBOY, Teddy-Gewinner 2011, über die zehnjährige Laure, die sich als nach dem Umzug in eine neue Gegend erstmal als Junge ausgibt. Das dürfte sich mit PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN, der dieses Jahr den Drehbuchpreis in Cannes gewann, ändern.

INDIEKINO: Ein Teil der Faszination, die von Ihrem Film ausgeht, liegt im Prozess des Endeckens, in der Art und Weise wie wir langsam das Gesicht, den Körper, die Gesten von Héloïse wahrnehmen. Wie haben Sie diesen Vorgang aus Ihrer Sicht als Drehbuchautorin und Regisseurin für sich erschlossen?

Céline Sciamma: Zunächst einmal liegt dem ein ziemlicher langer Prozess des Schreibens zugrunde. Und damit meine ich eigentlich nicht das Schreiben an sich, sondern eher ein Träumen. Die Idee zu dem Film war mir eigentlich direkt nach GIRLHOOD gekommen, also vor zirka fünf Jahren. Aber zunächst habe ich mir zwei, drei Jahre lang lediglich erlaubt, davon zu schwärmen, ohne zu schreiben, abgesehen von ein paar Notizen, mal eine Seite hier und da, in denen ich versucht habe, die richtige Balance zu finden zwischen den verschiedenen Ansätzen, die mir für den Film vorschwebten. Da war zum einen das, worauf Sie angespielt haben, also diese Idee, eine Choreografie des Entdeckens zu entwickeln, um zu beschreiben, wie jemand sich in eine andere Person verliebt, und gleichzeitig zu beschreiben, wie das Kino mit all seinen Mitteln und Möglichkeiten diesen Prozess akkurat nachvollziehen kann, Schritt für Schritt. Es ging mir um die Freude am Entdecken, aber auch um die Verzögerung und die Frustration, die dabei entstehen kann. Andererseits wollte ich auch den Verlauf einer Liebesgeschichte zeigen, ihre Vergangenheit, ihre Zukunft, diesen Zeitraum, in dem alles möglich scheint. Ich wollte einen Film über den Dialog der Liebe drehen, über ihre Philosophie und Poesie. Und dafür brauchte ich Zeit: Um das nötige Gleichgewicht zu finden, aber auch, um den Film in eine Richtung zu lenken, die mir radikal genug erschien. Es war mir wichtig, die richtige Struktur zu finden, um sowohl den Dialog der Liebe als auch den Dialog der Kunst einbinden zu können und all diese Ideen zu transportieren, ohne allzu theoretisch zu werden. Der sollte Film verspielt wirken, aufregend sein und Spaß machen – Spaß beim Drehen und Spaß bei Schauen.

Haben Sie sich als Inspiration für die Ästhetik des Films an bestimmten Gemälden orientiert?
Meine Kamerafrau und ich haben ziemlich intensiv darüber diskutiert, was das Licht und die Bildeinstellungen angeht, und irgendwann meinte sie: „Okay, wir machen es so, wir konstruieren das alles nicht bewusst wie ein Gemälde, aber insgeheim wissen wir beide, dass es so ist.“ Das heißt, wir haben nicht gesagt, das Ganze soll genauso wie ein Gemälde von Georges de La Tour oder wem auch immer aussehen. Im Gegenteil. Unsere Referenzen kamen in erster Linie aus dem Kino, besonders wenn es darum geht, wie man einen Film mit Kerzen beleuchtet. Aber uns war natürlich schon klar, dass im Nachhinein alle sagen würden, es sieht aus wie gemalt. Denn immerhin geht es im Kino um ähnliche Dinge: Es geht um Licht, um Komposition, um Gesichter und Silhouetten. Konkrete Bezugspunkte aus der Malerei gab es also eigentlich nicht, bis auf einen, der gar nicht aus der Zeit stammt, in der der Film spielt. Wir mussten immer wieder an [Jean-Baptiste-Camille] Corot denken, einen französischen Maler des 19. Jahrhunderts, der hauptsächlich Landschaften malte. Darüber hinaus hat er aber auch ein paar wenige Porträts von Frauen angefertigt, Frauen in Landschaften. Wir waren ganz begeistert von der Art und Weise, wie in seinen Bildern das Licht von den Figuren aus zu strahlen scheint. Die Figuren erleuchten sozusagen das Bild.

Was waren Ihre filmischen Referenzen?
BARRY LYNDON hatte sicher den größten Einfluss, nicht nur auf mich, sondern ganz allgemein auf das Kino, wenn es darum geht, einen historischen Film zu beleuchten. Was nicht heißen soll, dass wir alles genauso machen wollten wie Kubrick damals. Es ist eher so: BARRY LYNDON ist ein Film, in dem so unheimlich viele Ideen stecken, die einen zum Denken anregen, und es ist ein Film, der einen selbst mutiger macht. Anstatt zu kopieren, geht es eher darum, einen Standard zu schaffen, den man nicht zwingend übernehmen muss, aber auf den man hinarbeitet. Wir haben unsere eigenen Methoden entwickelt, um eine bestimmte Stimmung und Ästhetik zu erzeugen. So wie auch Kubrick viel für seinen Film erfunden hat. Er hat sogar eine eigene Linse entwickelt, um genau die Atmosphäre zu kreieren, die er haben wollte.
In beiden Filmen, Ihrem wie Kubricks, spielt der Ort des Geschehens eine wichtige Rolle. Er entwickelt gewissermaßen einen eigenen Charakter.
Das Gebäude, in dem wir den Film gedreht haben, hatte einen unschlagbaren Vorteil: Es war über die Jahre so gut wie unangetastet geblieben. Es handelt sich dabei um ein altes Rathaus in einem kleinen Vorort, einer Gemeinde namens La Chapelle-Gauthier, ungefähr siebzig Kilometer von Paris entfernt. Es schien wie ein Ort aus einer anderen Zeit. Sobald wir auch nur einen Fuß in die Tür gesetzt hatten, wussten wir, das ist es. Und wir wussten, dass alles genauso bleiben sollte, wie es war, was ungewöhnlich ist, weil es in einem Historienfilm ja eigentlich immer darum geht, die Zeit zu rekonstruieren, in der die Geschichte spielt, um einen höchst möglichen Grad an Echtheit und Wahrheitstreue zu erreichen. Alle meine bisherigen Filme sind größtenteils im Studio entstanden. Die Wohnungen, in denen die Protagonistinnen lebten, waren alle nachgebaut. Und nun hatte ich auf einmal mit einer vierten Wand zu kämpfen. Dabei hätte es viel mehr Sinn gemacht, gerade nicht an einem Originalschauplatz zu drehen. Es ist eigentlich ein Paradox, aber das mag ich sehr.

Es war nicht so, dass ich die Männer erst im Schneideraum gekillt habe.

Sie haben noch eine weitere Entscheidung bewusst getroffen, nämlich dass es in Ihrem Film so gut wie keine Männer gibt.
Auch das stand für mich bereits von vornherein fest. Es war nicht so, dass ich die Männer erst im Schneideraum gekillt habe. Der Hauptgrund dafür war, dass ich eine Liebesgeschichte erzählen wollte, die gelebt wird. Und obwohl klar ist, dass die beiden Liebenden unmöglich damit durchkommen, wollte ich trotzdem über die Möglichkeit ihrer Liebe sprechen, nicht über die Unmöglichkeit. Wenn ich Männer ins Spiel gebracht hätte, hätte es nicht funktioniert, denn dadurch wären die Grenzen des Möglichen allzu sichtbar geworden. Dabei kennen wir diese Grenzen sowieso, und ich finde, wir müssen doch nicht ständig immer wieder und wieder darüber reden. Ich wollte diesen beiden Frauen den nötigen Raum geben, sich auszudrücken und ihre Liebe voll und ganz auszuleben. Anders gesagt: Ich wollte ihnen Zeit geben, sich vorzustellen, wie ihr Leben in einer Welt aussehen könnte, in der sie sich nicht permanent gegenüber Männern behaupten müssen.

Vor allem gegenüber Männern, die sich in ihre Liebe einzumischen versuchen.

Genau. Diesen Konflikt wollte ich bewusst vermeiden. Ich wollte nicht einmal, dass sie untereinander in Frage stellen, ob ihre Liebesgeschichte überhaupt möglich ist oder nicht. Aber auch das ist eine Frage der Dramatik, nicht des Geschlechts. Es ging darum, die Geschichte so zu erzählen, dass sie den Figuren die größtmögliche Freiheit lässt, die sie in Wirklichkeit nicht haben. Und damit meine ich nicht nur eine imaginäre Freiheit, sondern eine ganz konkrete. Ich wollte, dass sich die Liebe echt anfühlt. Aber natürlich ist das im Grunde nur ein anderer Weg, um auf jene Grenzen hinzuweisen, die zweifelsohne für diese beiden Frauen existieren. Nur das wir sie eben nicht zeigen, weil sie ohnehin auf der Hand liegen. Ich hatte das Gefühl, die beiden Frauen konnten sich kein anderes Leben vorstellen. Warum sollte ich sie also in die Situation versetzen, einen Kampf zu kämpfen, den sie sowieso nicht gewinnen können?

Es scheint fast so, als hätte der Schritt zurück ins 18. Jahrhundert auch Ihnen als Regisseurin eine größere Freiheit beschert, die Geschichte zu erzählen.
Es war in jedem Fall auch für mich ein befreiender Prozess. Ein Prozess, der mich als Regisseurin mutiger gemacht hat. Bisher waren meine Filme immer sehr stark im Hier und Jetzt verankert und in dem Sinne gewagt, weil politisch motiviert. Diesmal wollte ich jedoch einen Schritt weiter gehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil es hier um eine Künstlerin bei der Arbeit geht. Der Film sollte auf spielerische Art und Weise mit dem Thema umgehen, und man sollte ihm auch meine eigene Liebe zum Kino ansehen. Deshalb wirkt er mitunter auch so intim. Nicht, weil ich meine persönliche Geschichte erzähle, sondern weil ich meine Arbeit weniger verschlossen halte, sie weniger als ein Geheimnis ansehe und mehr als ein Geschenk offenbare.

Das Hören sollte zu einer organischen Erfahrung werden.

Interessant ist auch, dass Sie nicht nur auf Männer, sondern fast vollständig auf Musik verzichten.
Auch das war eine Wahl, die ich gleich zu Beginn treffen musste, denn es bedeutete, dass ich das Drehbuch mit dem Gedanken im Hinterkopf schreiben würde. Das heißt natürlich nicht, dass ein Film ohne Musik nicht auch musikalisch sein kann. Aber man schreibt anders. Und es bedeutet, dass man am Set ein starkes Gefühl für Rhythmus beweisen muss – für mich kein Problem, weil ich ohnehin von Rhythmus besessen bin. Ich wollte die Zuschauer*innen in den Zustand versetzen, indem auch für sie die Kunst unerreichbar ist, so dass das Hören von Musik auch für sie kostbar wird. Der Film behandelt ja das Verhältnis zwischen Kunst und Liebe und was für eine wichtige Rolle Kunst in unserem Leben spielt. Das Hören sollte demnach zu einer organischen Erfahrung werden. Es ging mir darum zu zeigen, dass sich die Kraft der Musik auch für das Kino zurückerobern lässt. Das Stück von Vivaldi, das im Film vorkommt, ist eine Hymne, aber es ist auch die typische Musik in Telefon-Warteschleifen. Ich fand es spannend, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man dieses Stück, das man so unendlich viele Male gehört hat, neu für sich entdeckt, und zwar in einem komplett anderen Kontext und mit einem Bild im Kopf.

Die letzte Szene im Film ist atemberaubend. Ich kann mir vorstellen, dass es sowohl für Sie als auch für Adèle Haenel ein ziemlicher Kraftakt gewesen sein muss, die Einstellung für eine derart lange Zeit zu halten.
Ganz ehrlich, das ist die wichtigste und schwierigste Einstellung, die ich je gedreht habe. Und mit schwierig meine ich auch technisch nicht ohne, weil man dafür sorgen muss, dass der Fokus gewahrt bleibt. Und der arme Kerl, der sich darum kümmern musste, hat den ganzen Take über Blut und Wasser geschwitzt. Denn wir waren wir ja nicht in Hollywood. Das heißt, er saß auf einem kleinen Stuhl, der auf einem selbstgebastelten Gefährt montiert war, das ein paar andere Männer langsam auf Adèle zu durch den Raum schoben. Alles war extrem improvisiert. Andererseits ist Kino ja oft auch genau das: Technik. Man kreiert etwas, mit den wenigen Mitteln, die man hat, um damit einen kurzen Moment auf die Leinwand zu zaubern, der die Menschen bewegt.

Wussten Sie ebenfalls von Beginn an, dass Sie den Film mit dieser Einstellung enden lassen wollten?
Ja, es war das erste Bild, das ich im Kopf hatte, als ich anfing zu schreiben. Es ist eines dieser Bilder, die einen vorantreiben, wenn die Zweifel überhand nehmen. Und glauben Sie mir, ich habe diesen Film mehr als einmal aufgegeben. Aber ich wusste immer, dass er, wenn, dann so enden sollte. Für mich liegt in dem Bild eine Mischung aus purem Leben und einem vorzeitlichen Traum. Ich kann es nicht besser beschreiben. Vielleicht ist es das letzte Geheimnis, dass mir noch bleibt.

Das Gespräch führte Pamela Jahn