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Interview

Ich liebe Melodrama

Interview mit Justin Chon über BLUE BAYOU

Justin Chon ist als Sohn koreanischer Immigranten in Südkalifornien aufgewachsen. Sein Vater war in Südkorea Schauspieler, eröffnete aber in den USA ein Schuhgeschäft. Chon studierte zunächst Betriebswirtschaft, und begann seine Schauspielkarriere mit Jugend-TV-Serien wie „Wendy Wu: Homecoming Warrior“ und der Rolle des Eric Yorkie in den TWILIGHT Filmen (2009-2011). 2013 begann Chon, auch Regie zu führen und eigene Drehbücher zu produzieren. Sein erster Film GOOK (eine rassistische Beleidung für asiatisch-stämmige Personen) handelte von zwei koreanisch-amerikanischen Brüdern, die im Schuhgeschäft des Vaters arbeiteten, und sich kurz vor den Unruhen von 1992 mit einem Schwarzen Mädchen anfreunden. GOOK wurde, wie Chons zweite Regiearbeit, die Familiengeschichte MS. PURPLE, zum Sundance Festival eingeladen. BLUE BAYOU lief in der Sektion „Un Certain Regard“ in Cannes. Für INDIEKINO sprach Patrick Heidmann mit Justin Chon.

INDIEKINO: Mr. Chon, wie kamen Sie darauf, sich mit BLUE BAYOU dem Thema Adoption anzunehmen?


Justin Chon: Ich selbst bin nicht adoptiert. Meine Eltern kamen in den 1970ern aus Korea in die USA und ich bin dort Jahre später geboren. Aber ich habe koreanische Freundinnen und Freunde, die als Kinder adoptiert wurden, was auch nicht verwunderlich ist, denn die Adoption koreanischer Kinder hat eine lange Tradition. In Südkorea fingen Auslandsadoptionen in den 1950er Jahren an, bevor daraus später ein weltweites, riesiges Geschäft wurde. Jedenfalls fing ich irgendwann an, immer mehr Geschichten um ein paar Ecken zu hören von Fällen, in denen erwachsene Menschen, die mehr oder weniger ihr gesamtes Leben in den USA verbracht hatten, ausgewiesen werden sollten.

Das klingt im ersten Moment wie ein schlechter Scherz!

Ja, ich konnte mir das auch gar nicht vorstellen. Wenn du als Kind von einem US-amerikanischen Paar adoptiert wurdest, warum solltest du 20 Jahre später plötzlich nach Korea zurückmüssen? In ein Land, wo du niemanden kennst und von dem du mutmaßlich nicht einmal die Sprache sprichst? Ich war geschockt, als ich herausfand, dass es solche Fälle dutzendfach gab, auch mit anderen Ländern. Und zwar nicht als juristische Formfehler oder so, die sich nach einer Überprüfung der Lebensrealitäten schnell korrigieren lassen. Sondern im Gegenteil. Zu meinem Entsetzen wurden und werden tatsächlich immer wieder Adoptivkinder ausgewiesen, deren Eltern sich nie um eine spätere, formale Einbürgerung gekümmert haben. Und in einem solchen Fall zurückzukehren, ist häufig fast unmöglich.

Ist das eine „Errungenschaft“ der Trump-Ära?

Kein bisschen. Das gab es auch schon unter den Regierungen davor. Überhaupt ist es mir ein Anliegen, immer wieder zu betonen, dass mein Film keine politische Agenda in dieser Hinsicht hat. Als der erste Trailer veröffentlicht wurde, kommentierten gleich viele Leute: Oh, das ist mal wieder linker Hollywood-Bullshit. Dabei gebe ich diesbezüglich gar kein Statement ab, sondern überlasse es meinem Publikum, sich eine eigene Meinung zu bilden. Deswegen war es mir auch so wichtig, den Protagonisten bloß nicht in ein zu gutes Licht zu rücken.

Wie meinen Sie das?

Er sollte auf keinen Fall makellos sein und wie ein Heiliger herüberkommen. Dann hätten die Leute mir nämlich erst recht vorgeworfen, Propaganda zu betreiben. Jetzt hat er ein Vorstrafenregister – und sie sagen: Er ist doch kriminell, also wollen wir ihn hier eh nicht haben. In den Online-Kommentaren kann man also mit einer solchen Geschichte offensichtlich nur verlieren. Trotzdem war es mir ein Anliegen, dass dieser Antonio LeBlanc so menschlich und glaubwürdig wie möglich wirkt. Ich will schließlich mit BLUE BAYOU nicht polarisieren, sondern eine ehrliche Diskussion darüber anstoßen, wie moralisch es ist, jemanden zu deportieren, der ohne je seine Zustimmung gegeben zu haben als Kind in die USA gebracht wurde.

Werden diese Fälle in den USA nicht längst heftig diskutiert?

Leider nicht. Im Gegenteil haben die meisten Menschen davon noch nie gehört. Ich habe vor sechs Jahren angefangen, an dieser Geschichte zu arbeiten, und in der Zeit hat sich rein gar nichts an der Situation geändert. Wenn wir über Deportationen und die Einwanderungs- und Zollpolizei (ICE) sprechen, dann immer im Kontext der mexikanischen Grenze. Das ist naheliegend und wichtig, aber es gibt eben auch noch ganz andere Fälle.

New Orleans ist ein besonderer Ort, wie es ihn in den USA kein zweites Mal gibt.

Lassen Sie uns konkret auf den Film zu sprechen kommen, in dem Sie ja auch selbst die Hauptrolle spielen. War das von Anfang an Ihre Intention?

Ich wollte das eigentlich auf keinen Fall. Ich war schon bei meinem Film GOOK Regisseur und Schauspieler gleichzeitig und fand das wirklich anstrengend. Man hat als Regisseur ohnehin immer fünf Baustellen gleichzeitig und entsprechend viele Mitstreiter*innen, die irgendetwas von einem wollen. Dann auch noch die ganze Zeit vor der Kamera stehen zu müssen, das ist echt heftig. Doch je länger ich mich mit der Geschichte befasste und mit Leuten darüber sprach, desto mehr wuchs mir auch diese Rolle ans Herz. Und plötzlich fielen mir all die Vorteile ein, die es hat, wenn ich selbst auch die Hauptrolle spiele. Ich konnte all die schwierigen Szenen – wie etwa die auf dem Motorrad – selbst übernehmen und musste mir keine Gedanken machen, ob und wie ein Schauspieler das hinbekommt. Außerdem ist es jetzt auch im Nachhinein in der Pressearbeit ganz praktisch. Ich bin drin in dem Thema und kann da problemlos monatelang drüber sprechen, was von einem Schauspieler mitunter ganz schön viel verlangt ist.

Sie haben an etlichen Punkten unerwartete, nicht immer naheliegende Entscheidungen getroffen. Der Tonfall zum Beispiel ist ausgesprochen emotional und dramatisch ...

Ich liebe Melodrama. Für viele hat das heutzutage ja eine negative Konnotation, aber das ist mir egal. Seinen Ursprung hat der Begriff ja in der Musik, beim Musical, das ist eine Handlung mit Musik. Und nicht umsonst spielt Musik nun in meinem Film eine große Rolle. Bei der Weltpremiere in Cannes las ich danach gleich einige Kritiken, die fanden, dass das alles zu viel sei, die Musik genauso wie das Drama. Aber hey, mein oberstes Ziel ist es doch gewesen, dass das Publikum etwas fühlt und Empathie für diese Figuren entwickelt. Das ist der effektivste Weg, wenn man in unserer Gesellschaft Veränderungen erreichen will. Warum also hätte ich mich bei den Emotionen zurückhalten sollen?

Auch die Besetzung der weiblichen Hauptrolle ist ungewöhnlich. Wenn es um eine Amerikanerin aus Louisiana geht, denkt man nicht unbedingt an Alicia Vikander, oder?

Vielleicht nicht, aber gerade deswegen stand sie für mich ganz weit oben auf der Wunschliste. Diese Figur ist eine, die durch ihre Funktion in der Geschichte ziemlich schnell zu einem austauschbaren Klischee hätte werden können. Eine Südstaaten-Amerikanerin – dazu hätte jede amerikanische Schauspielerin sofort und ohne drüber nachzudenken ein Bild im Kopf gehabt und die Sache quasi blind spielen können. Bei einer Schauspielerin, die nicht aus den USA kommt und diesen automatischen Bezug nicht hat, würde das anders sein, stellte ich mir vor. Denn sie trifft jede Entscheidung bewusst, wie sie spricht, wie sie sich bewegt – über alles macht sie sich Gedanken.

Und erfüllte sich diese Erwartung?

Ich finde schon. Alicia macht aus dieser Rolle etwas ganz Besonders. Nicht, dass ich je Zweifel gehabt hätte, dass sie das schauspielerisch draufhat. Ich verfolge ihre Karriere schon seit dem schwedischen Film PURE (dt. Die innere Schönheit des Universums), wo sie bereits fantastisch war. Aber tatsächlich wird sie ja häufig in Kostümdramen und historischen Stoffen besetzt. Ich hatte sie nicht nur noch nie als Südstaaten-Amerikanerin gesehen, sondern ganz allgemein eigentlich nicht in einer derart rohen, wahrhaftigen Rolle voller Leidenschaft. Jedenfalls glaube ich, dass meine Entscheidung richtig war. Genauso übrigens im Fall der zweiten wichtigen Frauenfigur, der aus Vietnam stammenden Parker. Die habe ich mit Linh Dan Pham besetzt, einer französischen Schauspielerin.

Das Südstaaten-Setting ist ohnehin interessant. Warum lassen Sie als Kalifornier Ihre Geschichte genau dort spielen?

Zum einen ist Louisiana interessant, weil sich dort nach dem Vietnamkrieg besonders viele Geflüchtete aus Vietnam angesiedelt hatten. Diese vietnamesische Gemeinschaft dort wird für Antonio zu einer Art Spiegelbild, das ihn dazu bringt, über sich selbst nachzudenken. Aber zum anderen war es mir auch wichtig, mal einen asiatisch-stämmigen Mann in dieser Welt zu zeigen, mit diesem Akzent und in dieser spezifischen Umgebung. Das sieht man sonst nämlich eher nicht. Wenn im amerikanischen Kino mal asiatische Protagonisten vorkommen, dann in der Regel in New York oder Los Angeles. Abgesehen davon ist New Orleans natürlich ein sehr besonderer Ort, wie es ihn in den USA kein zweites Mal gibt. Ich habe dort eine ganz besondere Vielfalt entdeckt, und vor allem sehr viel Wärme und Freundlichkeit. Und vor allem sind die Menschen dort, die etwa die Tragik des Hurrikans Katrina überstanden haben, ganz besonders widerstandsfähig.

Mich beschäftigt das Thema Gewalt gegen Asiaten ohnehin schon lange.

Sie zeigen in BLUE BAYOU auch Hass und Anfeindungen gegen asiatisch-stämmige Menschen in den USA. Dies wurde auch im Zuge der Corona-Pandemie zu einem öffentlichen Thema - da wurden teilweise Menschen körperlich auf der Straße angegangen, weil sie angeblich das Virus eingeschleppt hätten ...

Das war wirklich ganz entsetzlich, aber gleichzeitig war ich auch froh, dass das Thema endlich mal wahrgenommen wurde. Eine bestimmte Szene in BLUE BAYOU wirkt in diesem Kontext besonders aktuell, auch wenn ich sie natürlich geschrieben hatte, bevor es Corona gab und Vorfälle wie die von Ihnen beschriebenen in den Nachrichten und sozialen Netzwerken zu sehen waren. Mich selbst beschäftigt das Thema Gewalt gegen Asiaten ohnehin schon lange. Mein Film GOOK, der 2017 auch beim Filmfest in München lief, aber sonst in Europa kaum zu sehen war, handelte im Grunde von nichts anderem. Da ging es um die Unruhen 1992 in Los Angeles und die Anfeindungen, die Koreaner damals aus der Schwarzen Community erlebten.

Waren Sie enttäuscht, dass Ihre Regiearbeiten in der Vergangenheit noch nicht die ganz große Aufmerksamkeit bekamen, vor allem im Ausland?

Was heißt schon enttäuscht. Sowohl GOOK als auch MS. PURPLE liefen beim Festival in Sundance, das ist ja nicht nichts. Außerdem waren das kleine Filme. Trotzdem habe ich mich natürlich gefreut, dass bei BLUE BAYOU nun eine größere Produktionsfirma und entsprechend ein höheres Budget im Spiel war. Auch wenn das gleichzeitig natürlich eine deutlich größere Verantwortung nach sich zog und es zum Beispiel auch in dieser Hinsicht wichtig war, dass ich jemanden wie Alicia Vikander besetze statt einer Laiendarstellerin, die ich auf der Straße entdecke. Nach BLUE BAYOU habe ich dann für AppleTV+ die Serie „Pachinko“ (Start: 25.3., Anm. d. Redaktion) gedreht. Das war noch einmal eine ganz andere Hausnummer.

Das Gespräch führte Patrick Heidmann