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Interview

„Ich frage meine Kinder jeden Morgen, was sie geträumt haben“

Interview von Thomas Abeltshauser mit Mamoru Hosoda über MIRAI – DAS MÄDCHEN AUS DER ZUKUNFT.

INDIEKINO BERLIN: Wie sehr hat Ihr eigenes Leben und Ihre Rolle als Vater den Film beeinflusst?

Mamoru Hosoda: Es begann im Grunde mit der Geburt unseres zweiten Kindes. Unser älterer Sohn fühlte sich durch die Ankunft seiner kleinen Schwester plötzlich zurückgesetzt und der elterlichen Liebe beraubt. Es gab immer wieder Momente, in denen er aufgebracht war und Wutanfälle bekam, er war richtig eifersüchtig auf das Baby und die Aufmerksamkeit, die wir unserem Neugeborenen entgegenbrachten. Das beschäftigte mich sehr und verwirrte mich auch, weil ich selbst als Einzelkind aufgewachsen bin und diese Rivalität und Konkurrenz nie gespürt habe. Daraus entstand die Idee, diesen Film zu machen. Und Kun und Mirai, die beiden Kinder im Film, wie sie aussehen und wie sie sich verhalten, basiert komplett auf meinen eigenen Kindern.

Sie zeigen eine Familie, in der die Eltern keine eindeutige Rollenverteilung haben, sondern beide gleichberechtigt agieren. Auch der Mann übernimmt Aufgaben im Haushalt, bleibt zuhause und kocht für die Familie. Zeigen Sie damit ein Ideal oder eine familiäre Situation, die in Japan so tatsächlich existiert?

Meine Frau war eine große Inspiration dabei. Es entspricht dem, wie meine eigene Familie lebt und ich sehe auch in meinem Umfeld Veränderungen hin zu mehr Gleichberechtigung und Arbeitsteilung im privaten Bereich. Die klassische Rollenverteilung in der japanischen Gesellschaft bricht langsam auf, immer mehr Väter nehmen Elternzeit und kümmern sich um die Kinder, während die Frau einen Beruf ausübt und für den Broterwerb sorgt. Und diesen Wandel wollte ich auch im Film reflektieren. Das Bild der japanischen Familie im Ausland ist noch immer sehr traditionell geprägt, aber da passiert gerade sehr viel und immer mehr Menschen lösen sich von tradierten Vorstellungen und Werten. Jede Familie sucht nach ihrem subjektiven Ideal.

Der Film steckt voller liebevoller Details und visueller Ideen. Wie entwickelten Sie den Stil für diese Geschichte?

Ganz einfach, indem ich meine und andere Kinder beim Spielen beobachtete. Da gab es immer wieder Momente, die mich überraschten und bei denen ich dachte: Woher haben sie nur diese Idee, wie ist ihnen das eingefallen? Kinder haben eine blühende Fantasie, die fast unerschöpflich ist. Als ich anfing, Filme zu inszenieren, war ich mehr von den großen Meistern des Weltkinos beeinflusst, aber mittlerweile berühren mich Dinge viel mehr, die um mich herum geschehen. Und natürlich meine Familie, Menschen in meinem näheren Umfeld.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich hatte mich nie für Eisenbahnen interessiert. Aber plötzlich war mein Sohn Feuer und Flamme und wollte sich dauernd damit beschäftigen. Und wie wir wissen: Wenn dein Kind sich für etwas begeistert, fängst du besser an, es ihm gleichzutun. Also fing ich an, mich mit Zügen auseinanderzusetzen, lernte alles über die verschiedenen Hochgeschwindigkeitszüge der japanischen Shinkansen-Eisenbahn, um mit ihm mithalten zu können. Das Faszinierende daran war, dass ich durch die Zeit, die ich mit meinem Sohn verbrachte, auf eine Art meine eigene Kindheit noch einmal erlebte, mich an viele kleine Erlebnisse erinnerte und selbst wieder zum Kind wurde.

Im Grunde sind alle meine Filme sehr persönlich.

Im Film spricht der Junge mit Versionen seiner Familienmitglieder aus der Vergangenheit und der Zukunft. An welche Zeitreisefilme erinnern Sie sich aus Ihrer Jugend?

Ich habe 2006 selbst einen solchen Film gedreht, DAS MÄDCHEN, DAS DURCH DIE ZEIT SPRANG. Aber für MIRAI wollte ich all diese Science-Fiction-Genrekonventionen nicht, dieser Film hat sehr viel mehr mit kindlicher Fantasie zu tun und wie es Eltern prägt, wenn sie Zeit mit ihren Kindern verbringen und sich auf diese spielerische Fantasie einlassen und ein Stück weit selbst wieder Kinder werden. Der Film sollte ein Blick auf die Welt durch die Augen eines Kindes werden.

Zugleich verfügt das kleine Mädchen in manchen Szenen über eine Weisheit weit über ihr junges Alter hinaus.

Die Idee kam von meinem Sohn. Ich frage meine Kinder jeden Morgen, was sie geträumt haben. Und eines Tages erzählte mein Sohn, dass ihm im Traum seine „große Schwester“ begegnet sei. Sie war zu dem Zeitpunkt gerade mal zwei Jahre alt und ich fragte ihn, was er damit meint. Er sagte, sie sei so groß wie ein Teenager gewesen. Ich fand die Vorstellung absolut faszinierend.

Wie ist der Anime-Stil für diesen Film entstanden? Hatten Sie Vorbilder?

Wir haben viel darüber diskutiert, wie wir die Wärme in diesem Zuhause und die Zärtlichkeit innerhalb dieser Familie visualisieren. Die Architektur des Hauses ist sehr modern und minimalistisch und wir ergänzten das mit Materialien, die womöglich von einem älteren Haus stammten, um ein Zuhause zu konstruieren, das Geborgenheit ausstrahlt. Auch der Garten mit dem Baum im Innenhof und vor allem das sanfte Licht dort waren uns wichtig. Die Wärme entstand vor allem durch die handgezeichneten Elemente des Films, auch wenn etwa die Hälfte am Computer entstanden ist. Es ist ein Hybridfilm und wahrscheinlich einer der letzten seiner Art. Von Hand gezeichnete Animation stirbt leider auch in Japan aus.

Wie entwickeln Sie Ihre Filme?

Ich schreibe zunächst das Drehbuch, gebe es meinen Produzenten zu lesen, schreibe es um, bis ich damit zufrieden bin. Erst dann zeichne ich Storyboards. Ich trenne beide Arbeitsprozesse klar voneinander.

Wie wichtig ist es, dass Sie mit Studio Chizu Ihre eigene Produktionsfirma gegründet haben?

Keiner meiner Filme waren Auftragsarbeiten, es waren alles Projekte, die wir realisieren, Geschichten, die wir erzählen wollten. Und das geht nur mit einem eigenen Studio, deswegen haben wir Chizu als Ort künstlerischer Freiheit gegründet.

Sie erwähnten, dass sie als Einzelkind aufwuchsen. Woran erinnern Sie sich in Ihrer eigenen Kindheit?

Ich war ein sehr schüchternes Kind und habe viel Zeit alleine verbracht, ohne mich einsam zu fühlen. Mir gefiel es, ich habe schon immer viel gezeichnet. Ich war sehr introvertiert. Später wollte ich dann Maler werden, war aber auch vom Kino fasziniert. So kam ich zur Animation.

Würden Sie MIRAI als Ihren persönlichsten Film bezeichnen?

Im Grunde sind alle meine Filme sehr persönlich. AME & YKUKI – DIE WOLFSKINDER entstand nach dem Tod meiner Mutter, in DER JUNGE UND DAS BIEST setzte ich mich mit meiner neuen Rolle als Vater auseinander und nun mit MIRAI beschäftige ich mich damit, wie sich mein Sohn verändert, als er eine kleine Schwester bekommt.

Würden Sie selbst gerne Mitglieder Ihrer Familie in Ihrer Jugend begegnen?

Natürlich würde mich interessieren, wie meine Eltern in jüngeren Jahren waren. Als sie noch lebten, habe ich mir darüber nie Gedanken gemacht, aber jetzt wo sie nicht mehr da sind, frage ich mich oft, wie sie wohl waren.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser