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Feature, Interview

„Genrefilme neigen dazu, am Ende alle Probleme zu lösen“

Interview mit Jessica Hausner zu LITTLE JOE

In ihren Filmen entwirft die Österreicherin Jessica Hausner Szenarien, die einerseits einen klaren Realitätsbezug haben – in ihrem „Horrorfilm“ HOTEL (2004) sind die dunklen Flure das Unheimlichste, ihr „Mysterienspiel“ LOURDES (2009) ist an realen Pilgerstätten gedreht, und AMOUR FOU (2014) bricht den Liebestod von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel auf zermürbende Debatten herunter – und zugleich in eine sehr eigene, minutiös durchgestaltete Welt führen. In diesen entschleunigten Universen kann jederzeit alles passieren, und nichts davon muss wahr sein. Mit ihrem jüngsten Film LITTLE JOE war Hausner im Wettbewerb von Cannes zu Gast, die Hauptdarstellerin Emily Beecham erhielt dort den Preis für die beste Darstellerin.

INDIEKINO: Frau Hausner, was hat Sie daran gereizt, eine Pflanzenzüchterin in den Mittelpunkt Ihrer Geschichte zu stellen?

Jessica Hausner: Mir ging es von vornherein darum, dass die Hauptfigur eine Wissenschaftlerin sein sollte. Mich interessiert die Rolle von Wissenschaftlern in unserer heutigen Gesellschaft sehr. Ich denke, sie gewinnen immer mehr an Bedeutung, denn wir glauben ihnen immer mehr, was sie sagen. Außerdem kam mir in dem Zusammenhang diese FRANKENSTEIN-Idee in den Sinn und die Geschichte ist in gewisser Weise eine Variation davon: Eine Wissenschaftlerin kreiert ein Monster. Das Besondere ist hier jedoch, dass sie gleich zwei Monster schafft, von denen eines ihr eigenes Kind ist. Und über beide diese Monster verliert sie, langsam aber sicher, die Kontrolle.


Will man LITTLE JOE einem Genre zuordnen, denkt man zunächst an Science Fiction. Würden Sie dem zustimmen?

Meine Filme stehen oft mit herkömmlichen Genrebezeichnungen in Widerspruch, weil ich versuche, sie so wahr wie möglich zu gestalten. Und in dem Fall habe ich versucht, eine mögliche wissenschaftliche Erklärung zu finden. Deshalb war ein Neurologe in unserem Team, ein Pflanzen-Gentechniker und einer, der auf Menschen spezialisiert ist. Gemeinsam haben wie versucht, eine Brücke zu finden, eine Erklärung, wie eine Pflanze in den menschlichen Körper eindringen kann. Und dann hatte einer der Wissenschaftler die Idee, dass ein Virus, der von der Pflanze ausgeht, zu einem menschlichen, krankheitserregenden Virus mutiert, mehr wie in einem realen Horrorfilm.

Und das ist tatsächlich möglich?

Ja, ist es. Es ist eine Theorie, die funktioniert. Aber wie in allen meinen Filmen, ist nicht nur die Realität möglich, auch Wunder sind es. Man kann sich auf nichts wirklich verlassen. Vielleicht ist es unwahrscheinlich. Aber ich habe bewusst nach einer Theorie gesucht, bei der man denkt: Kann das wirklich so sein? Soll ich das glauben, oder nicht?

Gibt es filmische Referenzen, die Sie im Hinterkopf hatten, wie etwa INVASION OF THE BODY SNATCHERS, um nur ein Beispiel zu nennen?

Ich denke eher, dass Filme wie INVASION OF THE BODY SNATCHERS genau die Art von Genreklassikern sind, die ich mit LITTLE JOE zu untergraben versucht habe. Der Film spielt mit dem Genre, ist aber deshalb nicht automatisch auch ein Genrefilm. Man muss die Ironie verstehen, die darin liegt, um seine wahre Freude an dem Film zu haben. Denn wer auf Zombies hofft, die plötzlich um die Ecke kommen, der wird enttäuscht werden. Der Humor im Film ist wirklich wichtig. Deshalb sieht auch die Pflanze ein bisschen lächerlich aus. So dass man von Anfang an versteht, dass der Film sich in gewisser Weise auch lustig darüber macht. Darin liegt die feine Ironie. Jemand hat den Film neulich als Horror-Komödie bezeichnet, vielleicht kommt das der Sache am nächsten.

Empfinden Sie Genrebezeichnungen grundsätzlich als etwas Altmodisches?

Ja. Ich denke heutzutage ist es nicht mehr angemessen, Geschichten zu erzählen oder Filme zu drehen, die klar und eindeutig sind, beziehungsweise die sich klar einordnen lassen und die einem am Ende alle Antworten servieren, so dass man als Zuschauer*in zufrieden nach Hause gehen kann. Ich nehme die Wirklichkeit um mich herum als extrem gespalten war. Es gibt so viele verschiedene Wahrheiten, so viele verschiedene Aspekte und so viele Informationen über alles. Und Genrefilme neigen eher dazu, am Ende alle Probleme zu lösen, wohingegen ich versuche, in meinen Filmen die Verstörung zu thematisieren, die dabei entsteht, wenn es auf alle Fragen immer mehr als eine Antwort gibt.

Wir glauben schon zuviel an die Wissenschaft

Sind Sie selbst eine Pflanzenfreundin?

Überhaupt nicht. Ich weiß nichts über Pflanzen. Jetzt zwar schon ein bisschen mehr, aber als wir mit der Arbeit am Film begannen, hatte ich nicht die leiseste Ahnung.

Wie wichtig war Ihnen das Design der Pflanze, um die es im Film geht? Ihr Äußeres ist ja sehr speziell.

Die Pflanze ist ein Hilfsmittel, um die Geschichte zu erzählen. Sie ist eine Art Symbol. Und ich wollte, dass sie diesen ikonischen Charakter hat. Zunächst dachte ich gar nicht unbedingt an eine Pflanze im klassischen Sinn. Zum Beispiel dachte ich, es könnte auch ein Apfel ohne Kerne sein, etwas, das durch Gentechnologie kreiert wurde. Aber mit Nahrung ist das so eine Sache. Es ist kompliziert, weil man sie bereitwillig essen muss, um eine Veränderung hervorzurufen. Eine Pflanze, die ihren Duft verstreut, erschien mir besser und treffender für die Geschichte, also entschied ich mich dafür. Davon abgesehen ist sie allgemeingültiger. Zum Beispiel könnte man sich das Ganze auch als Märchen denken, dann ginge es nicht um eine Gentechnikerin und eine Pflanze, sondern um eine Hexe, die eine schöne rote Blume herzaubert, die die Menschen glücklich macht. Dieser Märchenaspekt war mir auch wichtig.

Nicht nur die Ästhetik der Pflanze, auch die des Films insgesamt ist sehr eigenwillig und außergewöhnlich, und zudem auffallend zeitlos.

Die Zeitlosigkeit lag mir besonders am Herzen, danach habe ich gesucht. Und manchmal ist das gar nicht so einfach zu erreichen, allein was die Kleidung angeht. Denn man muss erst mal ein Kostümdesign schaffen, dass nicht automisch mit einer bestimmten Periode, einem bestimmten Jahrzehnt in Verbindung gebracht wird. Die Kostümbildnerin ist meine Schwester, Tanja Hausner. Wir haben bisher an allen meinen Filmen zusammengearbeitet. Sie hatte eine interessante Art, an die Sache heranzugehen, zumal sie sehr spezielle, sehr helle Farben gewählt hat, auch weil das die Zuschauer davon ablenkt, darüber nachzudenken, um welches Jahr es sich handeln könnte. Zudem gibt es dem Film eine eher surreale Note.

Sie haben bereits die Vormachtstellung der Wissenschaft in unserer heutigen Gesellschaft angesprochen. Bedeutet Genmanipulation für Sie auch die Gefahr einer totalitären Herrschaft?

Das ist die politische Seite der Frage. Ich denke, ein Teil der Wissenschaft ist bereits ziemlich totalitär. Ich habe den Eindruck, dass die Wissenschaft in der Hinsicht heute die Religion ersetzt hat. Früher hatte die Religion die Antworten auf alle Fragen und die Priester erklärten uns den Unterschied zwischen Gut und Böse. Heute übernehmen die Wissenschaftler die Aufgabe, Informationen über alles zu besitzen. Nur kam man dem genauso wenig trauen, denn ein Wissenschaftler sagt das eine, und der nächste etwas anderes. Weil sie eben auch nicht alles wissen. Und es ist wichtig, dass die Menschen das begreifen. Wir glauben schon viel zu viel an die Wissenschaft.

Die Wissenschaftler in Ihrem Film versuchen mit aller Gewalt das Wachstum der Pflanzen zu steuern. Wie kontrollsüchtig sind Sie selbst, wenn es um Ihren Film geht?

Die Hauptfigur im Film erinnert mich in der Hinsicht sehr an mich selbst. Und sie sagt es ja am Anfang im Gespräch mit ihrer Psychologin auch: „Ich kann nicht alles kontrollieren, nicht wahr?“ Und das ist ihr Dilemma, denn das will sie im Grunde. Sie will alles kontrollieren, aber sie kann es nicht.

Und so geht es Ihnen auch?

Ja, absolut.

Happiness Business

Wie muss man sich das in der Zusammenarbeit mit den Schauspielern vorstellen?

Es gibt ein klares Konzept, wie sich die Schauspieler bewegen sollen, ganz ähnlich wie beim Ballett. Wenn wir proben, werden die Szenen einzeln ausgetragen. Ich sage den Schauspielern wer wann wie wohin gehen muss, und wann und wie die Sätze gesprochen werden. Gleichzeitig probt der Kameramann die Bewegung der Kamera um die Bewegung der Schauspieler herum. Und dann wiederholen wir die Szenen zwanzig oder dreißig Mal, was natürlich nicht angenehm ist für die Schauspieler. Ich glaube Ben Whishaw hat es gemocht, aber nicht alle genießen diese Art von Intensität, weil sich dreißig Mal zu wiederholen natürlich auch ziemlich schrecklich ist, und nicht alle können das. Deshalb suche ich immer konkret nach Darstellern, die das aushalten und die lebendig bleiben, auch wenn ich versuche, sie dabei so gut es geht, zu kontrollieren. Ich brauche Persönlichkeiten, die sich wehren können. Emily, zum Beispiel, hat mich irgendwann einfach nur noch ignoriert. Und das war gut so, weil sie auf diese Weise ihre Persönlichkeit am Leben hielt, und darauf kommt es an. Darauf bin ich angewiesen. Denn wenn meine Kontrollwut perfekt wäre und alles einnehmen würde, dann würde ein sehr langweiliger Film dabei herauskommen. Ich brauche Schauspieler, die dagegen angehen.

Wie wichtig war Ihnen die Musik im Film?

Die Musik hat gewissermaßen einen eigenen Charakter. Die Musik macht, was sie will. Aber das gefällt mir. Ich mag es, wenn die Musik als Gegenspieler agiert und dadurch in manchen Szenen ein sehr merkwürdiges Gefühl erzeugt. Der Komponist, Teiji Ito, hat auch für Maya Derens Filme die Musik komponiert. Und ihre Filme inspirieren mich sehr. Sie ist eine experimentelle Filmemacherin, die für ihre surrealen Avantgardefilme der 40er und 50er Jahre bekannt ist, und sie schafft darin diese Seelenräume. Ich kann es nicht anders beschreiben. Es sind Setting, Räume, Perspektiven, die einem das Gefühl von Unheimlichkeit vermitteln. Sie wirken ungemütlich, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt. Es ist extrem seltsam, wie in einem Traum.

Ein Lied in Ihrem Film heißt «Happiness Business». Ist das ewige Streben nach Glück das, was unsere moderne Gesellschaft vorantreibt?

Ich denke schon. Die Sehnsucht nach Glück ist allgegenwärtig und so intensiv. Das merkt man bei jedem Small Talk. Allein schon, wenn jemand fragt, wie es einem geht, traut sich ja kein Mensch mehr zu sagen: „Schlecht.“ Stattdessen sagt jeder automatisch sofort: „Gut. Mir geht’s so gut. Ich bin so erfolgreich. Alles ist so wunderbar.“ Ich persönlich empfinde das als Bedrohung, weil es unnatürlich ist. Mein Mann, der Musiker ist, hat den Song für mich geschrieben. Ich hatte ihn gebeten, mir einen fröhlichen Song zu schreiben, einen Song, der glücklich macht, und dann kam er mit der Idee zu «Happiness Business». Zuerst dachte ich noch, es wäre vielleicht etwas zu offensichtlich, aber dann habe ich mir überlegt, dass es vielleicht gar nicht schlecht ist, am Ende des Films, diese kleine Botschaft zu vermitteln. Einerseits ist der Wunsch, glücklich zu sein, natürlich sehr generell, und er ist tief in uns verwurzelt. Er war schon immer da. Aber vielleicht ist dadurch, dass unsere Sehnsucht kommerzialisiert wurde, auch der Druck auf uns gestiegen, dem nachzukommen. Und das ist das Gefährliche daran.


Sie lassen sich viel Zeit zwischen Ihren Projekten. Woran liegt das?

Es braucht einfach eine bestimmte Zeit, bis ich all die Informationen zusammen habe. Ich recherchiere unheimlich viel. Ich lese, ich rede mit Leuten, ich führe Interviews. Ich versuche, eine Geschichte in einer ganz präzisen Welt zu erzählen. Diesmal war es Wissenschaft, beim nächsten Mal wird es Schule sein. Dafür brauche ich Zeit, um das jeweilige Setting und die Geschichte so genau wie möglich zu gestalten. Ich fange stets mit einer Seite an, aber es dauert zirka ein Jahr, bis ich diese Seite gefüllt habe, um wirklich genau zu wissen, was die Geschichte ist, die ich erzählen will, was ich damit ausdrücken will. Danach geht es schneller.




Das Gespräch führte Pamela Jahn