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„Für mich waren die Frauen im Mainstreamporno Opfer und die in queeren oder feministischen Produktionen cool“

Interview mit Ninja Thyberg über PLEASURE

Schon in ihren Kurzfilmen hat sich die schwedische Regisseurin Ninja Thyberg (*1984) mit Rollen- und Körperbildern, Sexualität und Machtverhältnissen beschäftigt. In HOT CHICKS (2014) unterhalten sich die Tänzerinnen in einem Musikvideo vor dem Auftritt. In GIRLS AND BOYS (2015) vertauschte Thyberg die Jungs- und Mädchendialoge in einer Schulklasse. Ihr erster Langfilm PLEASURE (2020) erzählt die Geschichte einer jungen Schwedin, die in Kalifornien zum Pornostar werden möchte. Der Film wurde in das Wettbewerbsprogramm der Filmfestspiele von Cannes 2020 aufgenommen.

INDIEKINO: Sie hatten bereits 2013 einen Kurzfilm mit demselben Titel über die Pornoindustrie gedreht. Was interessiert Sie an diesem Thema?

Ninja Thyberg: Ich beschäftige mich mit dem Thema schon seit ich 16 war, also seit 20 Jahren, mein ganzes Erwachsenenleben. Zunächst interessierte mich das Produkt selbst, also die Pornovideos und wie sie unser Verhalten und unsere Einstellungen prägen. Das hatte viel damit zu tun, dass mein damaliger Freund, den ich mit 16 hatte, mir eines Tages einen Porno zeigte. Ich hatte zuvor nie etwas damit zu tun gehabt, nie einen gesehen und war total geschockt. Meine Vorstellung von Sex war sehr unschuldig, sehr vanillamäßig. Wir waren beide noch Jungfrauen, als wir uns kennenlernten. Und ich hatte damals irgendwie erwartet, dass Frauen in Pornos repräsentiert werden wie man es aus Werbeclips im Fernsehen oder Kino kennt: sexy, aber zugleich elegant und würdevoll, nur nackter eben. Aber nichts davon! Die Pornos waren richtig brutal, die Männer darin waren extrem dominant und in ihrem Verhalten den Frauen gegenüber sehr herabwürdigend. Ich hatte so etwas noch nie gesehen, wie sich diese Männer verhielten, war zutiefst verstörend. Das ist also, was Jungs und Männer geil finden?! Und erwartet das mein Freund etwa auch von mir? Meine Freundinnen und ich hatten komplett andere Vorstellungen davon, was Intimität und Sex angeht.

Wie gingen Sie damit um?

Ich war so wütend und wollte darüber reden, mit meinen Eltern, auch mit anderen Erwachsenen. Aber alle fühlten sich total unwohl, wenn ich das Thema ansprach. Als ich meiner Mutter einen der Pornos als Beispiel zeigen wollte, hat sie sich geweigert. Ich war also auf mich gestellt und wurde schnell zu einer Antiporno-Aktivistin, ziemlich radikal und schwarzweiß. Ich sah Pornos nur als Ausdruck von Frauenhass, ein männlich-misogyner Blick. Das Thema ließ mich nicht mehr los, ich beschäftigte mich immer mehr mit der Materie, recherchierte und hörte mir auch andere, ganz unterschiedliche Standpunkte an, und ich entdeckte feministische Pornografie, die andere Bilder, Geschichten und Repräsentationen produziert. Für eine Weile wurde ich selbst ein Teil dieser Community, merkte aber, dass ich auch da nicht differenziert genug hingesehen habe. Für mich waren die Frauen im Mainstreamporno Opfer und die in queeren oder feministischen Produktionen cool und radikal und selbstermächtigt. Ich stellte meine eigene Sichtweise und Haltung infrage.

Inwiefern?

Ich hatte mich parallel an der Universität im Fach Gender Studies eingeschrieben und arbeitete an einem Essay über Internetpornografie, dabei stieß ich auf immer mehr Frauen, die in dieser Branche hinter der Kamera arbeiteten. Daraus entstand dann der Kurzfilm PLEASURE und ich wusste zu dem Zeitpunkt auch schon, dass ich einen Spielfilm aus dem Thema machen will. Dazu war ich damals noch nicht in der Lage, der Kurzfilm sollte so eine Visitenkarte oder ein Pilot sein, um die längere Version finanziert und produziert zu bekommen. Und dann hatte ich das Glück, dass der Short viel Aufmerksamkeit und Lob bekam, er wurde zu den Festivals in Cannes und Sundance eingeladen und ich reiste damit um die halbe Welt. Und überall erzählte ich, dass ich die Menschen hinter den Klischees zeigen wollte und kam mir dabei ein bisschen scheinheilig vor, denn persönlich getroffen hatte ich zu dem Zeitpunkt noch niemanden. Ich war noch an keinem Porno-Set, hatte alles nur von meinem Computer aus recherchiert, Dokumentarfilme gesehen, Fachliteratur gelesen. All das reichte für den Spielfilm nicht mehr.

Sie reisten dann 2014 erstmals nach Los Angeles, ins Herz der Pornoindustrie.

Stimmt, und ich wurde dort einer Person in der Branche vorgestellt, die mir wiederum Kontakte zu anderen ermöglichte und so lernte ich langsam die richtigen Leute kennen. Nach zehn Tagen in L.A. war ich dann zum ersten Mal bei einem Pornodreh. Und ich stellte fest, dass diese Leute sehr viel offener und freundlicher sind, als ich es mir vorgestellt hatte. Und ich hatte meinen Kurzfilm als Referenz und konnte so meine Beweggründe und Absichten schnell klarmachen. Ich wollte lernen und die Fakten und Details präzise verstehen und wiedergeben. Ich stellte Hunderte technische Fragen: mit welchen Kameraobjektiven sie arbeiten, wie die Drehbücher umgesetzt werden, wie ein Dreh organisiert ist, all das. Anfangs traf ich nur auf Männer und es half, dass ich die wissbegierige junge Frau spielte, die sich sehr beeindruckt gab von allem, was ihr diese Typen zeigten und erklärten. Das hat so gut funktioniert, dass sie mich sofort auf weitere Drehs eingeladen haben und ich so immer mehr Leute kennenlernte. 2016 bin ich dann für sechs Monate nach Los Angeles gezogen und begann, das Drehbuch zu schreiben und Leute vorsprechen zu lassen, die mir bei Drehs, auf Pornomessen und in Stripclubs auffielen und die ich gerne im Film haben wollte. Zurück in Schweden machte ich mich dann auf die Suche nach der Hauptdarstellerin, die Bella spielen sollte. Und das dauerte weit länger als ich gedacht hatte, 1 ½ Jahre. Insgesamt pendelte ich so fünf Jahre lang zwischen Stockholm und L.A.

"So gab es ganz unterschiedliche Intentionen mitzumachen als auch Reaktionen im Nachhinein."

War immer klar, dass es ein Spielfilm werden soll?

Ja, denn ich bin keine Dokumentarfilmemacherin. Es war anfangs gar nicht mein Plan, dass der Film so viele dokumentarische Elemente hat, ein Großteil der Darsteller sind selbst aus der Branche, wir drehten auf echten Pornosets… ich verfolgte einfach Richtungen, die ich interessant fand oder Personen, die mich inspirierten. Zugleich wollte ich immer die Kontrolle darüber behalten, wie ich meine Geschichte erzähle und mich darin nicht einschränken lassen. Der Film basiert auf realen Strukturen und Verhältnissen, die ich so akkurat wie möglich darstellen wollte, aber wie ich diese Teile zusammenfüge, ist meine Konstruktion. Bella ist eine fiktive Figur, auch wenn sie auf vielen Frauen basiert, denen ich in dieser Industrie begegnet bin. Sie ist aber auch mein Alter Ego, vieles von dem, was sie durchmacht, habe ich so oder ähnlich auch erlebt. Nicht die sexuellen Akte, ich benutze Porno als Metapher, um über bestimmte Verhaltensweisen zu sprechen, über das Patriarchat und Kapitalismus.

Außer Sofia Kappel als Bella sind alle Darsteller*innen aus der Branche. Es ist immer wieder irritierend, wie freimütig einige dieser Männer und Frauen mitwirken bei einem Porträt ihrer Branche, das alles andere als schmeichelhaft ist. Wie haben Sie ihr Vertrauen gewonnen?

Das ist bei jeder Person verschieden, zu manchen hatte ich engeren Kontakt als zu anderen, einige spielen Versionen ihrer selbst, andere sind im realen Leben ganz anders als ihre Rolle im Film. Die fiesen Typen werden von wirklich guten Leuten gespielt, die uns sehr unterstützt haben und Freunde wurden. Und viele haben kein Problem damit, den bad guy zu spielen, weil sie auch in den Pornos oft eklige Säcke verkörpern, den groben Stiefvater, der sich an der Teenagertochter vergeht oder derartiges. Einige machten mit, weil sie dachten, es wäre gut fürs Geschäft, anderen ist es schlicht egal, was man von ihnen hält, Hauptsache, ihre Produkte werden konsumiert. Und einige stehen hinter meinem Film und waren eine große Hilfe, weil sie sich auch für mehr soziale Gerechtigkeit und bessere Arbeitsbedingungen in der Branche einsetzen. Nur einer hat ein massives Problem mit dem fertigen Film, weil er sich beim Lesen des Drehbuchs wohl eine Version mit männlichem Blick vorgestellt hat. So gab es ganz unterschiedliche Intentionen mitzumachen als auch Reaktionen im Nachhinein.

Wie haben Sie mit Ihrer Hauptdarstellerin Sofia Kappel gearbeitet?

Eine gemeinsame Freundin hatte sie empfohlen, Sofia hatte keinerlei Kameraerfahrung und beim Vorsprechen war gleich klar, dass sie die richtige ist, weil sie sich völlig natürlich in Gefühlszustände versetzen und das sehr glaubwürdig verkörpern konnte. Sie verstand das Drehbuch und meine Absichten und war begeistert. Aber ich wollte auch sichergehen, dass ihr die Konsequenzen klar sind, dass womöglich Szenenbilder von ihr nackt für immer im Internet kursieren werden. Mir war wichtig, dass sie ein gutes Netzwerk an Familie und Freunden hat, das sie unterstützt.

"Das Klischee, dass diese Frauen manipulierte, schwache Opfer seien, stimmt schlicht nicht. Ich war immer wieder beeindruckt von ihrer Power"

Sie spielt nicht nur sehr sexuelle Szenen, sondern auch solche, die emotional sehr offen und verletzlich sind. Gab es etwa eine beratende Person für die intimen Szenen?

Als wir 2018 zu drehen begannen, hatte ich davon noch nie etwas gehört. Rückblickend ist es ein Wahnsinn, dass ich das alleine gemacht habe. Wir hatten eine lange Vorbereitungszeit von acht Monaten, sie kam mit nach L.A., sah sich Pornosets an, sprach mit vielen Frauen in der Branche, mit manchen freundete sie sich richtig an. Und wir entwickelten ihre Figur zusammen, mit vielen Details und Input von ihr. Sie war sehr involviert, nicht bloß eine Darstellerin vor der Kamera. Sie trug jede Entscheidung mit, ich wusste ihre Limits. Wir lebten während dieser Zeit im selben Haus und waren uns sehr nah und vertraut. Und wir hatten unsere Geheimsprache: Wenn wir nicht wollten, dass uns jemand versteht, wechselten wir einfach ins Schwedische. Wenn ihr etwas unangenehm war, fühlte sie sich nicht unter Druck gesetzt, sondern konnte mir das in jedem Moment direkt sagen. Nur durch dieses offene und sehr enge Verhältnis zwischen uns hat es überhaupt funktioniert.

Wie sehr hat sich Ihre Sicht auf die Branche durch den Film verändert?

Mir wurde erst durch die Recherche die Diversität klar, nicht nur die Art von Produktionen, die entstehen, sondern vor allem was die Menschen angeht, die dort arbeiten und ihre Gründe, warum sie es tun. Das Klischee, dass diese Frauen manipulierte, schwache Opfer seien, stimmt schlicht nicht. Ich war immer wieder beeindruckt von ihrer Power, sie sind Kämpferinnen, die sich nicht unterkriegen lassen. Viele von ihnen haben ein großes Herz und viel Sinn für Humor. Und sie verstehen so viel besser als ich, wie das Patriarchat tickt. Sie machen nur ihre Arbeit für etwas, das wir in der Anonymität vor unseren Bildschirmen konsumieren. Wo ich früher Mitleid hatte, ist heute großer Respekt.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser