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Feature, Interview

"Für mich ist der größte Antagonist immer das System"

Interview mit Ana Lily Amirpour über MONA LISA AND THE BLOOD MOON

Ana Lily Amipour hatte ihren internationalen Durchbruch 2014 mit A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT, einem Vampirwestern mit einer coolen Vampirin im Tschador. Nachdem ihr Wüstenkannibal*innenfilm THE BAD BATCH auf Netflix unterging, ist MONA LISA AND THE BLOOD MOON Amirpours zweiter Kinofilm, mit Jeon Jong-seo (BURNING) und Kate Hudson (ALMOST FAMOUS) in den Hauptrollen.

INDIEKINO: Ihr Film wirkt wie ein dunkles Märchen, fast wie eine moderne Version von Frankenstein.

Ana Lily Amirpour: Das gefällt mir. Ich habe den Film schon lange nicht mehr gesehen. Als Kind habe ich mich dabei gegruselt. Aber ich mag die Idee. Wenn man es so nimmt, sucht Frankenstein auch nur einen Freund. Und im Grunde wird er auf ähnliche Weise konstruiert, wie sich auch Mona Lisa im Laufe der Zeit entwickelt. Allerdings ist sie etwas agiler und unberechenbarer. Frankenstein bewegt sich sehr langsam.

Aus welcher Motivation heraus haben Sie Ihre Hauptfigur konstruiert?

Zuallererst wollte ich einen Film in der Art machen, wie ich sie als Kind geliebt habe. Einen Abenteuerfilm, mit einem Hauch von Horror. Und ich wollte meine eigene Superheldin erfinden. Ich hatte eine werwolfartige Figur im Sinn. Es ging mir darum, den Mond als etwas Ursprüngliches und Mächtiges herauszustellen, das tief mit unserem Inneren verbunden ist. Aber ähnlich wie in meinen anderen Geschichten, ist für mich der größte Antagonist eigentlich immer das System. Es ist ja nicht unbedingt so, dass es wie im Western stets einen Guten und einen Bösen geben muss. Die Welt, in der man lebt, fordert einen genug heraus. Sie setzt ein bestimmtes Verhalten voraus, und das beeinflusst letztendlich auch, ob und wo man sich zugehörig fühlt. Aber Mona Lisa ist jemand, die dieses Gefühl noch nie gespürt hat. Deshalb kann sie durchs Leben ziehen, ohne sich um irgendjemanden oder das, was passieren kann, Sorgen zu machen. Sie hat immer die Kontrolle. Ich fand das ein starkes Bild. Und ich wünschte, ich könnte das auch von mir selbst behaupten. Das wäre toll.

Andererseits ist Mona Lisa auch eine junge Frau, die niemand versteht. Sie ist ein großes Mysterium.

Genau. Ich denke, für uns Frauen liegt die ultimative Freiheit heute darin, unser Aussehen und Verhalten ändern zu können, aber es ist nicht sehr üblich. Mädchen werden immer noch zu oft und zu schnell über ihr Äußeres definiert. Deshalb war es mir wichtig, dass Mona Lisa sich ständig verwandeln und verändern kann. Aber die Fragestellung bleibt die gleiche: Wie findest man sich selbst?

Der Film spielt in New Orleans, und man bekommt den Eindruck, dass es ein ziemlich brutaler Ort ist. Haben Sie das auch so empfunden?

Das ist Teil der Kultur von New Orleans. Es ist ein sehr kraftvoller, wilder, schmutziger, lustiger und hedonistischer Ort. Und es ist ein Ort, der sehr alt ist. In der Stadt kommt alles zusammen. Ich verbrachte viel Zeit in all den Stripclubs, die es dort gibt, habe viele der Frauen getroffen und mich lange mit ihnen unterhalten, als ich das Drehbuch schrieb. Aber man muss auch die andere Seite sehen, die Tatsache, dass überall Polizisten herumlaufen. Jeden Tag holen sie betrunkene Mädchen von der Straße, damit sie aufhören, auf den Gehweg zu pissen und zu kotzen. Alles in dieser Stadt funktioniert auf eine bestimmte Art und Weise.

In gewisser Hinsicht ist New Orleans wie ein eigener Charakter in der Geschichte.

Die Stadt ist wie Bonnie. Sie wird immer wieder hart getroffen und steht trotzdem immer wieder auf. Sie ist eine Überlebenskünstlerin. So wie alle Menschen, die dort leben, Überlebenskünstler sind.

"Sobald ich anfange, über eine Figur nachzudenken, kommen mir diverse Songs in den Sinn."

Wie in allen Ihren Filmen spielt Musik erneut eine große Rolle. Entwickeln Sie den Soundtrack parallel zum Drehbuch?

Sobald ich anfange, über eine Figur nachzudenken, kommen mir diverse Songs in den Sinn. Ich höre privat auch viel Musik, eine ganz bestimmte Art von House-Musik. Aber wenn ich mich an ein neues Drehbuch setze, wollen die Figuren im Film unterschiedliche Songs hören. Charlie hatte für mich etwas von einer Art Thrasher-Metalhead, und bei Bonnie hatte ich ein eher loungiges Gefühl, so wie die Musik, die in dem Club gespielt wird, in dem sie tanzt. Mona Lisa dagegen ist voller optimistischer, dynamischer Energie, und Fuzz hatte diese Art von dreckigem industriellem Techno-Sound an sich. So hat jeder seinen eigenen Sound. Und ich liebe es, auch am Set Musik zu spielen. Ich habe einen Ghettoblaster mit Griff, den ich ständig mit mir herumtrage. Und wenn ich den Schauspieler*innen das fertige Drehbuch in die Hand gebe, liegt immer ein Brief auf der Titelseite, in dem steht: „Bitte höre Dir jeden Song an, während Du das Drehbuch durcharbeitest, damit Du ein Gefühl dafür bekommst.“

Sie scheinen generell ein großes Herz für Außenseiter und Einzelgänger zu haben. Woher kommt das?

Das liegt daran, dass ich selbst mein Leben lang das Gefühl hatte, eine Außenseiterin zu sein. Meine Eltern kommen aus dem Iran, ich wurde in England geboren, und dann gingen wir nach Amerika. Aber wir sprachen eine andere Sprache, ich sah anders aus und wir aßen anderes Essen. Ich habe immer versucht zu verstehen, wo ich hinpasse. Ich habe mich auch nie so weiblich gefühlt, wie die anderen Mädchen um mich herum. Ich wollte lieber im Dreck sitzen und Frösche fangen und auf Bäume klettern und Horrorfilme anschauen. Es gab keinen Platz für mich, also war ich allein. Aber ich war nicht traurig. Wenn man gezwungen ist, sich auf sich selbst zu verlassen, kann man die Fantasie schweifen lassen und sich eine ganz eigene Welt erschaffen, wie Bastian in „Die unendliche Geschichte“. Und man bekommt ein gutes Gespür für andere Menschen, denen es vielleicht genauso geht.

Gibt es etwas, dass Ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt?

Ich habe erst im Kino angefangen, einen Gemeinschaftssinn zu spüren. Wir alle lieben Geschichten, wir lieben Schauspieler*innen, wir lieben diese Kunstform. Ich bin sehr glücklich, heute von Menschen umgeben zu sein, die das ähnlich sehen. Andererseits ist es nicht schlecht, ein Außenseiter zu sein. Darin liegt eine enorme Kraft, weil man sich auf niemanden oder irgendetwas verlassen muss, außer auf sich selbst.

Apropos Außenseiter, arbeiten Sie weiterhin an Ihrer weiblichen Version von CLIFFHANGER?

Ja, aber so würde ich es nicht formulieren. Ich arbeite an einem Remake von CLIFFHANGER. Und ich freue mich sehr darauf. Es wird wirklich ziemlich verrückt und anders, weil CLIFFHANGER ein Kultfilm ist, sowas kann man nicht wiederholen. Aber davon abgesehen würde ich mir wünschen, dass die Medien einen neuen Weg finden, über weibliche Hauptfiguren zu schreiben. Dieses explizite Hervorheben von weiblichen Heldinnen, davon habe ich genug. Zumindest sollten wir dann beides gleichwertig herausstellen. Wie beim Tennis, da gibt es Damentennis und Herrentennis. Es heißt ja nicht Frauentennis und Tennis, oder? Und wenn wir jedes Mal betonen würden, wenn ein Mann die Hauptrolle spielt, dann würden wir schnell merken, wie dumm das ist.

Das Gespräch führte Pamela Jahn

Pamela Jahn