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Feature, Interview

„Freundliche Unterdrückung ist viel effizienter!“

Interview mit Cyril Schäublin zu UNRUH

Cyril Schäublin, geboren 1984 in Zürich, entstammt einer Uhrmacherfamilie und wuchs in der Schweiz auf. Zwischen 2004 und 2006 lebte er in China, wo er in Peking Mandarin und Film studierte. Es folgte ein Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Zurück in der Schweiz drehte er seinen Debütfilm DENE WOS GUET GEIT über eine Callcenter-Mitarbeiterin, die in ihrer Freizeit ältere Frauen mit dem „Enkeltrick“ ausnimmt. Der Film wurde in Locarno uraufgeführt und erhielt eine Nominierung für den Europäischen Filmpreis. Sein Zweitling UNRUH (OT: Unrueh) spielt in einem beschaulichen Schweizer Bergdorf anno 1877, in dessen Uhrenfabrik die Arbeiter*innen sich in der internationalen anarchistischen Bewegung organisieren. Auf der Berlinale gab es dafür den Regie-Preis der Sektion „Encounters“.

Mit dem Regisseur sprach Dieter Oßwald.


INDIEKINO: Die Figuren in UNRUH sind extrem freundlich im Umgang miteinander. Was hat es damit auf sich?

Das ist mein Erleben. Ich habe meine Familie befragt, meine Großtanten und Großonkel, die in einer Uhrenfabrik gearbeitet hatten, wie damals deren Verhältnis zu den Vorgesetzten war. Zu meinem Erstaunen war die Antwort immer dieselbe: Man empfand diese Autoritäten als sympathische, fürsorgliche Leute, welche auf einen aufgepasst haben.

Wie lässt sich das erklären? Alles nur gute Menschen in der Schweiz?

Ich glaube, diese freundliche Unterdrückung oder fürsorgliche Gewaltausübung ist eigentlich furchtbarer als eine offensichtlich gewaltvolle Haltung. Denn diese Methode ist eben viel effizienter.

Haben Sie diese Erkenntnis aus Ihrer Zeit als Student in China?

In China verliefen die Übergänge von den kaiserlichen Dynastien zur kommunistischen Revolution sehr schnell. Der Bezug zu Gewaltausübung und Autorität ist unglaublich viel komplexer als in Europa. Erstaunlich ist, wie diese Ordnungen für die Menschen so hingestellt und dann irgendwie gelebt werden, trotz aller Brüche, die vorhanden sind. Es wird sich auch in China nie vollständig kontrollieren lassen, wie die Menschen sich begegnen und organisieren. Auf sozialen Netzwerken muss sich jeder total zurücknehmen mit seiner Meinung. Aber sobald man in ein Restaurant oder einen Park geht, wird dort ohne Probleme geflucht und abgekotzt über die Regierung.

Bei der Schweiz dürften die meisten eher an Banken als an Anarchie denken. Wie bekannt ist dieses Kapitel der Geschichte?

Das Wissen darum beschränkt sich auf linke Kreise. Derweil kennt jedes Kind bei uns die Heldenlegende des Arnold Winkelried und der Schlacht bei Sempach. Auch in UNRUEH soll diese Schlacht ja von den Nationalisten nachgestellt werden. Solche nationalistischen Mythologien sind viel stärker im Geschichtsbewusstsein der Menschen. Es gibt viele Dokumente, die bezeugen, dass die Anfänge der anarchistischen Bewegung sehr respektiert waren in diesem Tal. Es stimmt wirklich, dass der Direktor der Uhrenfabrik ein Abonnent der anarchistischen Zeitung war.

Wie haben Sie diese anarchistischen Wurzeln in der Uhrenindustrie freigelegt?

Während seines Anthropologiestudiums in England entdeckte mein Bruder Emanuel, der mich später als ethnografischer Berater für den Film unterstützte, die anarchistische Theorie und Bewegung des 19. Jahrhunderts und ihre Verbindungen zur Schweizer Uhrenindustrie. Er brachte mich dazu, Texte des russischen Anarchisten Pyotr Kropotkin zu lesen. Als ich über das autobiografische Zitat stolperte, in dem Kropotkin beschreibt, wie er zum Anarchisten wurde, nachdem er ein Schweizer Uhrmachertal und dessen anarchistische Bewegung besucht hatte, wusste ich sofort, dass dies Teil des Films sein würde – neben einer Figur, die von meiner eigenen Großmutter inspiriert war, einer Uhrenfabrikarbeiterin, die die Unruhe herstellte

"Aber letztlich nimmt der Film eine Position ein, die weit von einer Persiflage entfernt ist."

Was wurde aus dem realen Anarchisten Pyotr Kropotkin?

Pyotr Kropotkin ist aktuell einer der am meisten gehypten politischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. In Frankreich und den USA gibt es Neuauflagen seiner Bücher. Sehr empfehlen kann ich sein Werk „Gegenseitige Hilfe“. In anarchistischen und linken Kreisen ist Kropotkin sehr bekannt und berühmt. In Moskau gibt es sogar eine Metro-Station, die seinen Namen trägt.

Sie machen den Anarchisten im Film hübscher als auf den Fotos, die es von ihm gibt.

An der Berliner Filmschule hörte ich von russischen Kommilitonen oft die Klage, dass die Darsteller in russischen Filmen meist nicht echt wirkten und mit falschem Dialekt sprechen. Deswegen war mir wichtig, die Rolle glaubwürdig mit einem Muttersprachler zu besetzen, der zudem einen Bezug zu der Figur hat. Mit Alexei Evstratov hatte ich dann einen absoluten Kropotkin-Aficionado gefunden - und er hat dazu auch ein schönes Gesicht.

Was hat es mit dieser Liebegeschichte zwischen der Arbeiterin und dem Anarchisten auf sich?

Meine ursprüngliche Idee war es, die “Liebesgeschichte”, den bekannten “Boy-meets-Girl”-Aspekt, in eine Art Persiflage des Genres zu packen. Sie gipfelt in der Schlussszene, wenn die Begegnung zwischen Josephine und Pyotr von den Leuten, die ihre Fotos kaufen, fiktionalisiert und vermarktet wird. Amüsanterweise fiktionalisiert und vermarktet die “Liebesgeschichte” auch den eigentlichen Film und wertet ihn dahingehend vielleicht auf. Aber letztlich nimmt der Film, zumindest für mich, eine Position ein, die weit von einer Persiflage entfernt ist.

Visuell fühlt man sich in Ihrem Film bisweilen an Wimmelbilder erinnert, bei denen man erst genauer hinschauen muss, um die Akteure zu entdecken. Was hat es mit diesem Konzept auf sich?

Ich finde es manchmal nicht so einfach, über Bilder zu reden. Es ist ja auch das Schöne an Bildern, dass Sprache immer nur versuchen kann, darüber zu sprechen. Gar nichts zu wissen und alles ist möglich, waren die beiden Leitlinien für meinen Kameramann Silvan Hillmann und mich bei unserer Suche nach Motiven. Wir wollten in einen Austausch treten mit diesen Orten. Wir wollten vermuten, dass es eine Intelligenz gibt der Mauern, der Straßen und Fabriken, die man selbst vielleicht gar nicht verstehen kann. Jeder Film, und historische Filme insbesondere, bieten immer eine Auswahl von Informationen. Man kann die Vergangenheit nicht als objektive Wirklichkeit zeigen. Deswegen wollten wir Bilder schaffen, bei denen man seinen eigenen Blick organisieren kann. Wo man selbst überlegt, wohin der Blick geht und wem die Aufmerksamkeit in diesem Wimmelbild geschenkt wird. Wer spricht wo? Was wird repräsentiert? Und wer darf überhaupt im Bild sein?

Was sagt Ihre Familie zu dem Film?

Traurigerweise sind fast alle, die ich für den Film befragt hatte, mittlerweile verstorben. Mein Großonkel Paul ist jetzt 99 Jahre, für ihn werde ich „UNRUEH in seinem Altersheim zeigen. Was mich besonders freut, ist der Umstand, dass Uhrmacher, die den Film vorab gesehen haben, bestätigen, dass die handwerklichen Abläufe alle stimmig sind.

Das Gespräch führte Dieter Oßwald

Dieter Oßwald