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Interview

„Filme reflektieren nicht die wirkliche Rolle, die Frauen im Leben spielen“

Interview mit Iciar Bollaìn zu EL OLIVO

Iciar Bollaín begann ihre Karriere als Estrella in Victor Erices EL SUR (1983) und hat seither in über 30 Filmen mitgespielt, von denen allerdings nur einige wenige wie LAND AND FREEDOM (1994, R: Ken Loach) und RABIA – STILLE WUT (2009, R: Sebastián Cordero) in deutschen Kinos zu sehen waren. In den 1990ern begann Bollaín sehr erfolgreich, eigene Filme zu drehen. Bereits ihr Debüt, die Komödie HOLA, ¿ESTÁS SOLA? (1995) wurde mit mehreren Nachwuchspreisen ausgezeichnet, ihr dritter Spielfilm ÖFFNE MEINE AUGEN (TE DOY MIS OJOS, 2004) über eine Frau, die sich von ihrem gewalttätigen Mann trennt und versucht, ein neues Leben anzufangen, gewann dann allein sieben Goyas, unter anderem in den Kategorien Beste Regisseurin, Bester Film und Bestes Drehbuch. In UND DANN DER REGEN – TAMBIÉN LA ILLUVIA (2010, Panorama Publikumspreis der Berlinale 2011) arbeitete Bollaín zum ersten Mal mit dem Ken Loach-Hausautor Paul Laverty zusammen. Anhand einer Story über eine Filmcrew, die in Bolivien einen umstrittenen Film über Christoph Columbus dreht und dabei in einen lokalen Konflikt über die Privatisierung der Wasserversorgung gerät, verhandelte UND DANN DER REGEN Fragen von Globalisierung und Kolonialismus. Mit EL OLIVO kommt nun bereits die zweite Zusammenarbeit von Bollaín und Laverty ins Kino. Hendrike Bake hat sich mit Icíar Bollaín auf dem Filmfest München, am Tag nach der Neuwahl in Spanien, über EL OLIVO unterhalten.

INDIEKINO BERLIN: Wie sind Sie auf die Geschichte von EL OLIVO gekommen?

ICÍAR BOLLAÍN: Die Geschichte hat Paul Laverty, der Drehbuchautor, in der Zeitung entdeckt. Der Artikel erzählte davon, wie einer dieser uralten Bäume ausgegraben und verkauft worden ist. Paul war schockiert. Es ist seltsam: ich habe diese Bäume in der Mitte von Kreisverkehren in Spanien oder als Gartendekoration gesehen, und ich habe immer gedacht, „wie schön sie sind“, aber nie „was zum Teufel machen die da mit den Oliven!“ Aber Paul hat gesehen, dass es nicht richtig ist, dass es gewalttätig ist, das jemand mit Geld einfach einen Baum, der 2000 Jahre lang in einer Gemeinde gestanden und von der Gemeinde gepflegt worden ist – denn anders kann ein Olivenbaum nicht überleben – und der seinerseits Oliven und Öl an die Gemeinschaft zurückgegeben hat, nehmen und daraus ein Deko-Objekt machen kann. Paul sucht immer nach kleinen, einfachen Geschichten, die etwas über die weitere Welt erzählen, die als starke Metaphern funktionieren, und der Olivenbaum hatte dieses Potential. Ich wollte gerne etwas darüber erzählen, was in Spanien in den letzten Jahren passiert ist, der Boom und dann die Krise, und Paul hat einen Weg gefunden, diese Geschichten über den Baum und die Familie zu erzählen. Auf den ersten Blick sieht der Film einfach aus, wie eine Fabel, aber es steckt eine Menge dahinter, er spricht viele Themen an.

Wie geht es dann weiter? Schreibt Paul Laverty ein komplettes Drehbuch oder entwickeln Sie es gemeinsam?

Paul erzählt mir seine Idee für einen Film sehr früh, denn er möchte nicht riskieren, lange an einer Geschichte zu arbeiten, mit der ich dann gar nichts anfangen kann. In diesem Fall war ich von der Idee sofort begeistert. Paul schreibt dann einen ersten Entwurf, den wir diskutieren, und dann entsteht eine zweite Fassung. Aber das Schreiben, die Entwicklung der Charaktere, all das ist Pauls Territorium. Wir diskutieren es unterwegs, aber es ist seine Arbeit. Und umgekehrt ist es auch so: Paul kommt ans Set und sieht, welche Entscheidungen ich treffe, aber es ist mein Arbeitsbereich. Wir arbeiten sehr respektvoll miteinander: jeder hat seinen Aufgabenbereich.

Alma ist im Krieg mit der Welt und mit sich selbst

Woher kam die Figur der Alma? Für mich war sie die stärkste Figur des Films, eine wunderbare Frauenfigur, die nicht nur stark ist, sondern auch eine Menge Ecken und Kanten hat.

Da stimme ich Ihnen zu. Ich finde sie auch eine sehr interessante Figur. Sie ist widersprüchlich, sehr punkig. Man mag sie fast nicht, aber dann ist sie auch so eine Naturgewalt, und auch sehr zärtlich. Ich mag es, dass sie sich im Krieg befindet. Sie ist im Krieg mit der Welt und mit sich selbst. Sie braucht Frieden, sie muss mit sich selbst zurechtkommen. Sie ist selbstzerstörerisch, aber sie hat auch Humor. Paul kam mit dieser Figur an, und ich fand sie faszinierend. In den verschiedenen Versionen war sie auch mal taffer, aber ich mochte sie von Anfang an und ich fand, sie war eine wundervolle und auch sehr originelle Protagonistin. Eine junge Frau im Zentrum der Handlung ist selten, meistens wäre es ein junger Mann.

Die männlichen Charaktere sind natürlich auch großartig, aber die ganze Handlung, die Veränderung wird von den Frauen vorangetrieben. Ist das etwas, das Sie auch in der Realität beobachten?

Ich glaube, dass Frauen unglaublich aktiv sind, aber wir sehen das normalerweise nicht im Kino. Ich finde, dass Frauen im Film nicht so aktiv oder so engagiert porträtiert werden, wie sie es in der Realität sind. Meistens haben sie unterstützende Rollen, seltener sieht man sie die Handlung vorantreiben und Entscheidungen fällen, wie sie es in der Wirklichkeit tun. Und wenn es schon keine jungen Frauen im Film gibt, gibt es noch weniger mittelalte Frauen, die in der Wirklichkeit das Herz von allem darstellen. Sie gehen ins Kino, sie reisen, sie sind – zumindest in Spanien – unglaublich aktiv. Sie kümmern sich um die Kinder, sie kümmern sich um die Eltern, sie arbeiten. Aber nur wenig davon wird im Film gezeigt. Filme reflektieren nicht die wirkliche Rolle, die Frauen im Leben spielen, zumindest spanische Filme nicht. Wie sehen Sie das?

Ich nehme das auch so wahr. Ich mochte Alma auch, weil es zwar so ungeheuer viele Filme gibt, die ins Kino kommen, aber, gerade im Mainstreamkino, nur wenige glaubhafte, starke, weibliche Charaktere. Charaktere, die nicht einem Klischee entsprechen.

Ich habe sogar das Gefühl, dass die Stereotypisierung zunimmt. Gerade die Mädchenfiguren im Kino sind extrem sexualisiert, und nicht nur im Kino, sondern auch auf youtube, in der Musikindustrie. Das gilt schon für Mädchen eines sehr jungen Alters. Da findet gerade ein Rückschritt statt, vor allem im Mainstreamkino. Es entfernt sich immer mehr von der Wirklichkeit. Vor zwanzig, dreißig Jahren mochte das noch angehen, aber ich frage mich wirklich, wann wir endlich eine treffendere Darstellung von Frauen im Film sehen werden.

Die Generation die für Arbeitsrechte und Demokratie gekämpft hat, ist die Generation, die sie wieder verspielt hat

In Ihrem Film geht es auch um einen Generationenkonflikt. Die Elterngeneration erscheint sehr resigniert, wohingegen Alma, obwohl sie wenig Perspektiven hat, etwas bewegen will.

Ja. Sie ist ein junges nonkonformistisches Mädchen, und obwohl sie einen beschissenen Job hat, gibt sie nicht auf und macht das einzige, das sie tun kann, nämlich an der Tür dieses Unternehmens zu klopfen und mindestens mal mit den Leuten persönlich zu reden. Andererseits gibt es die mittlere Generation. Für mich ist das diejenige, die am stärksten von der Krise getroffen wurde. Sie sind diejenigen, die in den Boomjahren viele falsche Entscheidungen getroffen haben, wie, die Bäume zu verkaufen. Wir haben die Bäume verkauft, unsere Landschaft verschandelt, Geld ausgegeben, dass wir nicht hatten, spekuliert. Die Elterngeneration hat das zu verantworten, aber es ist auch die Generation, die von der Krise am meisten traumatisiert wurde, sie ist selbst Opfer. Es ist komisch, das war die Generation die für Arbeitsrechte und Demokratie gekämpft hat, und es ist die Generation, die sie wieder verspielt hat. Das ist ein ziemlicher Brocken.
Alle reden immer über die Jungen in Spanien - mit gutem Grund, weil ihre Perspektiven so schlecht sind – aber den Leuten um die 50 geht es auch ziemlich schlecht. Sehr schlecht. Arbeitslos zu sein oder seinen Job zu verlieren ist mit 50 anders als mit 30. Diese Leute haben für mehr Rechte gekämpft und gedacht, dass sie das Land verändern können, sie haben den Übergang von Franco zur Demokratie gestaltet, und 1982 die Sozialisten gewählt. In den 80ern herrschte eine solche Aufbruchsstimmung und Begeisterung! Wir sind aufgewachsen in dem Bewusstsein in einem jungen, demokratischen neuen Land zu sein. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Es geht ja nicht nur um eine ökonomische Krise in Spanien, sondern auch um eine politische Krise, eine Krise der Institutionen. Das Land fällt auseinander und im Zentrum ist diese Generation der heute 50-jährigen. Ich weiß nicht. Ich bin noch etwas unter Schock nach der Wahl gestern. Es ist wieder dieselbe Partei gewählt worden, wieder die ganze Korruption, das Land scheint immer noch von derselben Elite ruiniert zu werden … der Franco Elite. Wir scheinen nichts zu lernen. Aber ich habe immer noch Hoffnung für die jungen Leute wie Alma, die sich nicht einfach hinsetzen und alles hinnehmen.

Tatsächlich fand ich auch bemerkenswert, wie wütend Alma war. Das habe ich lange nicht mehr im Kino gesehen. Es fühlte sich gut an.

Die Geduld zu verlieren. Ja.

Viele Menschen haben eine Erinnerung an einen Baum

Wie haben Sie den Baum gefunden und wie geht es ihm jetzt?

Dem Baum geht es blendend. Er ist inzwischen ein Jahr älter, also 2001. Wir brauchten einen besonderen Baum. Er sollte mächtig und schön und beindruckend sein. Wir haben uns tausende Bäume angesehen. Den Baum im Film haben wir auch deshalb ausgewählt, weil er hoch genug sein musste, damit Alma als Kind und als Erwachsene in seine Zweige klettern konnte. Dann mussten wir ein Modell des Baums bauen – der Baum, der im Film ausgebaggert wird. Viele der Bäume haben geteilte Stämme, weil sich im Laufe der Jahre der Stamm spaltet, und das ist eine schwierige Konstruktion für ein Modell. Es braucht einen Kern. Es war also eine komplexe Angelegenheit. Wir brauchten einen majestätischen Baum, der alle diese Anforderungen erfüllte. Dann haben wir diesen Baum ausgewählt und eine erstaunliche Sache ist passiert. Im Skript ist vom Monster im Baum nicht die Rede, aber da stand, dass das Mädchen im Baum das Gesicht eines Drachens entdeckt. Am ersten Tag habe ich das Gesicht im Baum gar nicht gesehen, wir haben ihn wegen seiner Größe und Schönheit ausgesucht. Drei oder vier Tage später bin ich mit dem Art Direktor noch einmal zum Baum gegangen und auf einmal stand ich an dieser einen Stelle – wenn man sich nur wenig bewegt, verliert man die Sicht wieder – und ich habe gedacht „Oh mein Gott, da ist ein Gesicht!. Wir müssen keinen Drachen erfinden, da ist tatsächlich ein Gesicht im Baum!“ Wir waren platt. Es musste der richtige Baum sein.

Ich war erstaunt, dass mich der Baum so gerührt hat. Natürlich projizieren die Figuren Liebe auf den Baum, aber der Baum selbst war wie eine Person.

Der Baum ist unglaublich. Der Stamm reicht von hier wo ich sitze, bis zu dem Sessel da drüben. Er hat einen Durchmesser von 8 Metern. Er ist wirklich majestätisch. In den Rückblenden, wenn sie den Baum ausreißen, haben wir auch viel mit Ton gearbeitet, mit dem Schrei des Monsters zum Beispiel - zum Glück hatten wir da etwas Freiheit, weil es sich um die Erinnerung eines kleinen Mädchens handelt. Ja, man fühlt mit dem Baum, man leidet mit ihm.

Ich habe mich daran erinnert, dass ich als Kind einen Lieblingsbaum hatte, einen alten Kirschbaum, um den ich Angst hatte, weil er alt und krank war. Das waren sehr starke Gefühle, an die ich lange nicht mehr gedacht habe.

Als wir den Trailer gemacht haben, haben wir mit Naturschützern gesprochen, die den Film ja auch gut für ihre Zwecke einsetzen können. Da war ein Mann, der sein Leben dem Schutz dieser Bäume und anderer alter Bäume gewidmet hat, der erzählte, dass wir als Kinder alle Umweltschützer sind. Auf die eine oder andere Art haben wir alle eine Verbindung zu Bäumen. Da ist ein Baum, auf den du geklettert bist, da ist ein Baum unter dem du gespielt hast, oder in dem du eine Höhle gebaut hast. Später verlieren wir diese Verbindung, sie ist Teil der Kindheit, wir leben in der Stadt – aber wir sind grün als Kinder. Viele Menschen haben eine Erinnerung an einen Baum, an einen besonderen, mit dem sie gespielt haben. In den Ferien, im Garten, in der Schule, irgendwo war ein besonderer Baum, eine Freundschaft mit einem Baum.

Das Gespräch führte Hendrike Bake